Die Digitalisierung als Fortschreibung der Machtverhältnisse
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Digitalisierung der Arbeitswelt bedeutet real eine erhebliche Zunahme an Produktivität und einen tendenziell unvermeidbaren Rückgang an Beschäftigung.
Letzteren kann man durch Neu- und Umverteilung von Arbeit für eine gewisse Zeit abmildern. Aber dadurch wird das Stellen entscheidender Fragen nicht überflüssig. Eine Verzögerung könnte sogar katastrophale Folgen haben.
Vorrangig geht es darum: Wer bestimmt die Prioritäten der Arbeits- und Produktionsprozesse und was ist das Ziel des technischen Fortschritts? Wer bestimmt Inhalte und Organisation des menschlichen Alltags, ja der Gesellschaft überhaupt? Wer definiert die Werte in dieser Gesellschaft?
Als das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 1978 titelte „Fortschritt macht arbeitslos“, bewegte es sich innerhalb der Logik der traditionellen kapitalistischen Denkweise. Denn menschliche Arbeitskraft war (und ist) ein Produktionsfaktor, der wie andere Faktoren (z.B. Material, Energie, eigener Kapitaleinsatz) vielfachen Veränderungen unterworfen ist - bis hin zur ersatzlosen Streichung.
Gleichzeitig konsumiert der Mensch aber auch das, was er produziert, wobei die Befriedigung seiner Konsumbedürfnisse von der Bewertung (Entlohnung) seiner Arbeitsleistung abhängig ist. Wenn durch technischen Fortschritt der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft zurückgeht, geht in einem kapitalistisch organisierten System auch die Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Prozess zurück, weil dieser wesentlich vom jeweiligen Einkommen abhängt. Wer wenig verdient oder auf Transferleistungen angewiesen ist, kann sich nur noch schlechte Wohnungen, minderwertige Lebensmittel und von Sklaven gefertigte Billigtextilien leisten; Mobilität und Bildung lassen sich dann kaum noch finanzieren. Menschliche Existenz könnte dann von der mehr oder weniger zufälligen Eingliederung in Arbeitsprozesse abhängen, denn selbst gut Ausgebildete unterlägen dem Diktat eines Marktes, der von völlig anderen Kriterien bestimmt würde.
Auch wer fest an die Prinzipien des Kapitalismus glaubt, erkennt zunehmend die Widersprüche zwischen einer auf Profitwirtschaft fixierten Ordnung und den Grundsätzen einer humanen Gesellschaft. Nicht von ungefähr kommt die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen aus dieser Richtung. Insbesondere die GRÜNEN als Jesuiten des 21. Jahrhunderts versuchen sich damit zu profilieren; schließlich haben sie es auch weitgehend geschafft, die Ökologie zum Instrument des Kapitals umzufunktionieren.
Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuiten-Ordens (Societas Jesu), unterwarf alles Irdische der „höheren Ehre Gottes“ (Omnia Ad Maiorem Dei Gloriam). Von ihm stammt der Ausspruch „Ich werde glauben, dass Weiß Schwarz ist, wenn es die Kirche so definiert“. Die ihm geistesverwandten Eiferer der Gegenwart rechtfertigen in ähnlicher Weise Verhältnisse, die sich längst überholt haben, mit der Begründung, dass es Abhängigkeit, soziale Ungerechtigkeit und Herrschaft immer gab und dass sie zur menschlichen Existenz dazu gehörten. Fortschritt wird in diesen Kreisen immer nur als Fortschreibung von Macht verstanden.
Der Ansatz von SPD und den meisten Gewerkschaften ist ein anderer. Das zeigt sich im soeben von Ministerin Andrea Nahles vorgelegten Weißbuch „Arbeit 4.0“. Im Prinzip geht es auch hier um die Rettung von Kapitalismus und Profitwirtschaft sowie um die Aufrechterhaltung von Klassengegensätzen. Aber man scheut sich (noch) davor, weite Teile der Arbeitnehmerschaft perspektivisch für überflüssig zu erklären und an den Rand zu drängen. Folglich wird nicht der Sinn der Arbeit und des Wirtschaftens in Frage gestellt, sondern lediglich Arbeitszeit und Arbeitsabläufe. Da das Produktionsmittel Computer relativ mobil eingesetzt werden kann, könnte es auch in den privaten Wohnungen der Arbeitnehmer stehen. Wo das aber wegen einer engen Verzahnung mit der Güterproduktion nicht möglich ist, wird das Arbeitsschicht-Modell neu definiert, nämlich durch eine Flexibilisierung, die Menschen zur ständigen Verfügungsmasse degradiert.
Bei der Diskussion über die Zukunft der Arbeit fällt auf, dass Digitalisierung als eine Art Geheimwissenschaft eingestuft wird. Doch das ist sie nicht. Eine Maschine, die menschliche Arbeit übernehmen soll, muss für diese Leistung programmiert werden. Dazu ist es notwendig, formale menschliche Denkschritte und manuelle Tätigkeiten zunächst in ihre kleinsten Bestandteile aufzuteilen und zu beschreiben. Erst danach können diese in elektronische Programme einfließen. Erfahrungsgemäß werden bei der Detailbeschreibung der menschlichen Arbeit erheblich mehr Fehler gemacht als bei der Programmierung. Wer beispielsweise die Syntax einer Sprache nicht hinreichend versteht, kann nicht erwarten, dass Schreibautomaten zu mehr in der Lage sind als Phrasen zu dreschen.
Wer die intellektuellen und manuellen Fertigkeiten des Menschen auf ihre technische Transformation hin analysiert, muss notwendigerweise auch den psychologischen und gesellschaftlichen Kontext allen Denkens und Handelns berücksichtigen. Ein Roboter, dem dieses 1:1 implantiert wurde und der immun gegenüber Manipulationsversuchen ist, wird dann angesichts bestimmter Herausforderungen sicherlich die Warnmeldung ausstoßen: Vorsicht kapitalistische Engführung! Jetzt auf Sozialismus umschalten!
Foto: Arbeiten 4.0 (c) Bundesministerium AS