Martin Schulz und die SPD
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die SPD hatte sich unter Gerhard Schröder mit den Feinden des Sozialstaats eingelassen und dadurch bei ihren traditionellen Wählern die Glaubwürdigkeit verloren.
Vermag Martin Schulz die Sozialdemokraten aus dieser selbst verursachten Serie von Plagen und Pleiten zu befreien? Frank Walter Steinmeier, der Diplomat und Strippenzieher, vermochte es nicht; Peer Steinbrück, der Finanzexperte, unterlag vier Jahre später ebenfalls. Denn das jeweilige Wahlprogramm erwies sich zu offensichtlich als Wein aus den Missernten der Agenda-Jahre, der in den lediglich umetikettierten Flaschen von 2009 und 2013 auch nicht besser geworden war. Vermutlich wäre Sigmar Gabriel im September 2017 ähnlich gescheitert. Er entzog sich der Fortsetzung dieses Hasardeurspiels, indem er den Doppel-Joker Martin Schulz medienwirksam und zur Überraschung der eigenen Partei aus dem Ärmel schüttelte.
Der ehemalige Präsident des EU-Parlaments ist sicherlich kein politisches Leichtgewicht. Seine vielgerühmten klaren, weil entlarvenden Worte, insbesondere gegen die Neo-Rassisten von AfD bis Front National, habe ich jedoch bei TTIP und CETA vermisst. Auch als die EU-Binnenmarktkommissarin Elzbieta Bienkowska 2016 die so genannte »Sharing Economy« im EU-Recht verankern wollte, war seine kritische Stimme nicht zu hören. Waren ihm die Arbeitssklaven des Uber-Fahrdienstes gleichgültig? Oder die Unterlaufung der Wohnungsinfrastruktur in Großstädten durch den Maklerdienst Airbnb? Hat Martin Schulz den Niedrigsteuerländern Luxemburg, Irland und den Niederlanden den Marsch geblasen? Die Fanfare ist jedenfalls nicht bis zu mir gedrungen. Hat er erfolgreich Maßnahmen des EU-Parlaments gegen die Datensammler Facebook und Google initiiert? Ich finde keine entsprechenden Meldungen dazu in den Medien.
Jahre zuvor hatte der Buchhändler Schulz bei der Klärung urheberrechtlicher Ansprüche zwischen Autoren und Verlagen anscheinend geschlafen. Nämlich bei der „Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft“. Denn in dieser Richtlinie, die mittlerweile auch in Deutschland in nationales Recht umgesetzt wurde, hatte man die Verlage als wichtigen publizierenden Faktor völlig vergessen. Jetzt ringen viele kleinere und mittlere Unternehmen in Deutschland ums Überleben, weil sie Tantiemen aus der Zweitverwertung an die „Verwertungsgesellschaft Wort“ zu Gunsten der Autoren zurückzahlen müssen.
Die Fragen, denen er sich als SPD-Vorsitzender und Kanzlerkandidat gegenübersieht, werden sich als mindestens so grundsätzlich erweisen wie die, denen er als Parlamentspräsident eher ausgewichen ist. Denn in diesem Amt verstand er sich zu häufig als Mittler einer Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten.
Gelingt es ihm, jene mindestens 15 Prozent der Wähler zurückzuholen, die sich von der SPD hintergangen fühlen? Ist er willens und in der Lage, diese Partei wieder zu einer zu machen, welche die soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahne schreibt und diese Forderung auch umsetzt?
Dazu wäre es notwendig, das Schrödersche Küchenkabinett einschließlich seiner Sympathisanten (Seeheimer Kreis, rechter Gewerkschaftsflügel) öffentlich zu brandmarken, aus allen Funktionen zu entfernen und dadurch eine inhaltliche Kehrtwende einzuleiten. Denn die Aufgaben sind immens:
Ende der Deregulierung;
Re-Verstaatlichung der Deutschen Post und Abschied von einer Privatisierung der Deutschen Bahn;
Einführung einer Bürgerversicherung und parallel dazu einer Gesundheitsreform;
Stabilisierung der staatlichen Rente ohne Geschenke an die Versicherungswirtschaft (Privatvorsorge);
Paradigmenwechsel in der Wohnungspolitik, die Grund und Boden nicht länger als Objekte wirtschaftlichen Handelns begreift;
Start einer nachhaltigen Klimapolitik als Neubesinnung in Landwirtschaft, Industrie, Verkehr und Energiegewinnung;
Einführung einer neuen Steuern- und Abgabenpolitik, die sich an der Vermeidung wirtschaftlicher Macht und Ressourcenverschwendung und der Stärkung des Staats orientiert;
Hinwendung zu einer Bildungskultur statt einer egozentrischen Karriereplanung;
Definition der Bundesrepublik Deutschland als säkularem Staat.
Allein dazu bedarf es der Beharrlichkeit eines Gorbatschow, dem Elan eines Obama und der List eines Bismarck. Aber falls Martin Schulz sich das zutraut, sollte man ihn lassen. Und möglicherweise erwiese sich auf diesem Weg ein Außenminister Sigmar Gabriel als optimale Ergänzung. Denn der wäre verwegen genug, um Donald Trump zumindest mit rhetorischen Colts gegenüber zu treten und auf Augenhöhe zu verhandeln. Immerhin hat er beim neuesten Politpoker völlig unvermutet ein Ass aus dem Ärmel gezogen: Martin Schulz.
Foto: Fahne der SPD von 1863 (c) SPD