Solidaritätsveranstaltungen für Deniz Yücel
Thomas Adamczak
Rüsselsheim (Weltexpresso) - Der in der Türkei inhaftierte Journalist Deniz Yücel verbleibt im Hochsicherungsgefängnis Silivri. Den Antrag der Anwälte auf Freilassung lehnte ein Gericht in Istanbul ab. Begründung: Yücels Berichterstattung sei nicht mehr durch die Pressefreiheit gedeckt. Das betreffe Überschriften, Ausdrucksweise und Ton der Artikel des Journalisten Yücel.
Deniz Yücel, geboren 1973 Flörsheim/Main, studierte nach dem Abitur (Gustav-Heinemann-Schule in Rüsselsheim) in Berlin Publizistik, war von 2002-2007 Redakteur der Wochenzeitung „Jungle World“, danach bis 2015 bei der „tageszeitung“. 2015 wechselte er zur Mediengruppe „N 24/Die Welt“. Er ist für „Die Welt“ Türkei-Korrespondent.
Yücel ist hier im Lande seit Jahren ein umstrittener Journalist. Mit seiner Kolumne „Super, Deutschland schafft sich ab“ (TAZ, 4/8/2011) bewirkte er wütende Leserreaktionen. Heftige Debatten löste er auch mit anderen Artikeln aus. Erinnert sei an seine knallharten Attacken auf Thilo Sarrazin und Joachim Gauck. Mit dem vormaligen und dem neuen Papst beschäftigt er sich anlässlich der Papstwahl 2013 („Junta-Kumpel löst Hitler Jungen ab“).
Diesen letzten Artikel hatte ich gelesen, mich geärgert - ich bin als Katholik sozialisiert, allerdings mittlerweile kein praktizierender mehr - und der TAZ einen gepfefferten Leserbrief geschrieben. Auf diesen antwortete mir Deniz Yücel persönlich, woraus sich ein Mailkontakt ergab. Wir waren beide an der gleichen gymnasialen Oberstufe (GHS Rüsselsheim), er als Schüler, ich als Lehrer, der ihn aber nie im Unterricht hatte.
Ich schrieb ihm, ich wolle nicht, dass sein Vater oder Großvater mit der Bezeichnung „alter Sack“ beleidigt würde. Nicht übel nähme ich es ihm, falls er mich als „alten Sack“ sehe, doch er solle bitte in einem journalistischen Text nicht alle Lehrer als „alte Säcke“ oder „faule Säcke“ (wie der ehemalige Bundeskanzler) bezeichnen.
Zur Begründung schrieb ich in der Mail u.a.:
„Sehr geehrter Herr Yücel, …. Sie bekommen jede Menge Zustimmung von Leuten, für die die katholische Kirche als Institution überholt, wenn nicht lachhaft ist. … Viele haben über ihren Papst-Artikel gelacht, finden sie doch die Formulierung „alte Säcke“ für Päpste zutreffend.
»Diese Typen von vorgestern, diese Lachnummern in Frauenkleidern, diese albernen Witzfiguren!« Herrlich, denen mal eine reinzuwürgen.
Nur, verehrter Herr Yücel, wir leben in einem Land, in dem das gelebte Ressentiment eine besondere Bedeutung hatte und weiterhin hat. Nehmen Sie das Ressentiment gegenüber Muslimen, Roma, Homosexuellen, Transsexuellen usw. Stellen Sie sich vor, Ihr Kommentar wäre von einer 11. Klasse der GHS gelesen worden oder von Schulklassen in Berlin Kreuzberg. Die evangelischen Schüler*innen würden zu den Katholiken sagen: „Natürlich sind das „alte Säcke“, eure Päpste.“ Die muslimischen Schüler*innen würden sich anschließen. Oder? Wie ging es weiter? „Eure Mullahs sind doch auch … Der Islam ist reaktionär, wird von „alten Säcken“ beherrscht.“ Sie verstehen, worauf ich hinaus will? Das Ergebnis wäre kein verständigungsorientierter Diskurs, sondern gegenseitiges Beschimpfen, Herabsetzen, Beleidigen.
Als Pädagoge dürfte und wollte ich nicht von „alten Säcken“ sprechen, sondern wäre bemüht, die Diskussion zu versachlichen. Das setzte Entemotionalisierung voraus. … Von Ihnen als Journalisten erwarte ich natürlich keinen Verzicht auf zugespitzte Kritik, scharfe Kritik, ich erhoffe diese vielmehr. Aber wo sind die Grenzen? Was sind adäquate Formulierungen, wo schießen Formulierungen über das Ziel hinaus? … Wie schwer ist es nach wie vor, sich in diesem Lande erfolgreich gegen ressentimentgeladenes Bewusstsein zu wehren und einzusetzen! Es bedarf der begrifflichen Anstrengung, dieses Klima nicht noch zu befördern. Der Beifall von Leser*innen, die sich über „alte Säcke“ vor Lachen ausschütten können, sollte Sie nicht ermutigen, Ihre Wortwahl nicht immer wieder überprüfen zu wollen.“
Daraufhin schrieb mir Deniz Yücel u.a. folgendes:
„Müsste ich vor Schülern meinen Papst-Artikel rechtfertigen, ich würde vermutlich betonen, dass der „alte Sack“ nicht dem Menschen galt, sondern dem Repräsentanten einer Institution. Und ich würde darauf verweisen, dass ich durch die despektierliche Sprache die größtmögliche Distanz zu dieser Institution hergestellt habe, um sie aus dieser Position gegen Erwartungen zu verteidigen, die sie meines Erachtens weder erfüllen kann noch muss. Wie weit ich damit käme, weiß ich nicht; ich bin kein Pädagoge.«
Und weiter schrieb er: „Ich denke, dass Form und Inhalt eines Textes miteinander korrelieren sollten. Mich langweilt dieser Sprachstil, der hierzulande in den Kommentarspalten gepflegt wird. … Ich denke, man kann keinen originellen oder geistreichen Gedanken in einer Sprache formulieren, über die sich der Mehltau gelegt hat. Natürlich folgt daraus nicht zwingend eine derbe Ausdrucksweise. Aber sie kann daraus folgen, finde ich jedenfalls. Ich hätte die Formulierung „alter Sack“ nicht gewählt, wenn ich mich selbst nicht immer häufiger als solcher fühlen würde.
Herzliche Grüße in die Heimat schickt Ihnen: Ihr Deniz Yücel“
Im November 2013 lud mich Deniz Yücel zu einer Aufführung von „Hate Poetry“ in Frankfurt/Main (s.d. https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/9245-aufwiegelung-zum-voelkerhass ) ein. Hate Poetry ist eine „antirassistische Leseshow“, bei der im Stile eines Poetry Slams rassistische Leserbriefe vorgelesen werden. »Selten war Rassismus so unterhaltsam«, urteilt die Welt über Hate Poetry, und die TAZ spricht von einer »kathartischen Lesung«. Die Besucher*innen werden mit unfassbaren verbalen Hassausbrüchen konfrontiert, die Deniz Yücel und anderen Journalist*innen wie Mely Kiyak, Yassin Musharbash, Özlem Topçu, Özlem Gezer, Hasnain Kazim, Doris Akrap und Ebru Taşdemir in Leserbriefen entgegenschlagen.
Die Journalist*innen lachen bei Hate Poetry diesen Hass weg, demonstrieren so dem Publikum, dass dies für sie die einzig angemessene Reaktion ist, denn argumentativ lassen sich Hassprediger sowieso nicht erreichen.
Vor diesem Hintergrund sollte die Inhaftierung des Journalisten Yücel in der Türkei auch gesehen werden. Er ist, wie erwähnt, Türkei-Korrespondent seit März 2015. Er hat u.a. Artikel zum Irak und Nordirak, zu Mosul, Kobane und zur Kurdenpolitik verfasst und Interviews zur Kurdenpolitik geführt. Alles Artikel, die in „Die Welt“ erschienen.
Im „Kursbuch“ 188 beschäftigt sich Deniz Yücel ausführlich mit dem Aufstieg Erdogans, thematisiert dabei auch eine Mitverantwortung der Kanzlerin Merkel (Kurzfassung des Aufsatzes erschien am 22.2.2017 in der FAZ; „Und morgen die ganze Türkei“).
Für sein gesamtes journalistisches Wirken - in Deutschland und über Deutschland und über die Türkei und andere Länder - gilt, was der Tucholsky-Preisträger (2011) in seiner Mail über sein eigenes journalistisches Selbstverständnis geschrieben hat:
»Dieser Text (über die Papst-Wahl 2013) war ein Kommentar und als solcher ausgewiesen - in der Sprache sicher keiner der üblichen Sorte, aber eben doch ein Kommentar. Das wichtigste aber ist, dass es mir in der Sache nicht darum ging, Verachtung für Katholiken und ihre Kirche zum Ausdruck zu bringen, sondern um das, worum es Ihnen offenbar ebenfalls geht: um Respekt und Toleranz. Oder genauer: um Respekt und Toleranz innerhalb gewisser Grenzen und unter Wahrung gewisser Voraussetzungen.«
Wer Deniz Yücel bei der Hate-Poetry- Veranstaltung erlebt hat und wer sein gesamtes journalistisches Wirken verfolgt, wird einräumen müssen, dass er diesem journalistischen Selbstverständnis sehr wohl zu entsprechend versucht.
Er hat keine Angst, „etwas zu sagen, was sonst niemand sagt“. Denn „man kann keinen originellen oder geistreichen Gedanken in einer Sprache formulieren, über die sich der Mehltau gelegt hat. Natürlich folgt daraus nicht eine zwingend derbe Ausdrucksweise. Aber sie kann daraus folgen“.
Tucholsky hätte zu diesen Sätzen genickt.
Wegen seiner drastischen „ Ausdrucksweise“ und dem „Ton“ seiner Berichte, die angeblich »Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung« zum Inhalt haben, sitzt dieser Journalist in der Türkei in einem Hochsicherheitsgefängnis.