Eine Analyse des NRW-Wahlergebnisses
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Signale in NRW stehen auf Schwarz-Gelb.
Damit ist ausnahmsweise nicht Borussia Dortmund gemeint. In diesem Fall assoziiert das sprachliche Bild eher jenes Absperrband, das bei der Sicherung von Gefahrenstellen nach Unfällen und Katastrophen verwendet wird. Das sich abzeichnende Regierungsbündnis von CDU und FDP birgt tatsächlich erhebliche Risiken für die sozialen Strukturen des größten Bundeslands. Denn um den alten, nur selten mit Anstand erworbenen Reichtum der Industrie-Barone und ihrer Nachfolger hat sich zusätzlich ein Speckgürtel aus politikverdrossenen Spießbürgern gelegt. Letztere sind das Produkt einer Sozialdemokratie, die intellektuell nicht mehr dazu in der Lage war, als Interessenvertreterin jener Mehrheit aufzutreten, die im Zeitalter des Neoliberalismus mindestens so einflusslos ist wie im Frühstadium des Kapitalismus.
Vor über 30 Jahren war es der SPD noch möglich gewesen, ein beispielhaftes Gefühl der Zusammengehörigkeit in Nordrhein-Westfalen zu entfachen. 1985 erzielte sie unter Führung von Johannes Rau mit 52,1 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Das Motto der Wahlkampf-Kampagne lautete „Wir in Nordrhein-Westfalen“.
Zehn Jahre später ging diese absolute Mehrheit verloren; 1995 kam es zu einer rot-grünen Koalition. Man hat Rau, der 1998 zu Gunsten von Wolfgang Clement als Ministerpräsident zurücktrat, vorgeworfen, den Wandel NRWs vom Kohle-und-Stahl-Land zum Technologie- und Wissenschaftsstandort nicht konsequent genug betrieben zu haben. Vermutlich befürchtete er bei harten Schnitten erhebliche soziale Verwerfungen. Sein Nachfolger Wolfgang Clement begab sich zwar mit weniger Skrupel an diese Aufgabe. Dennoch wagte er keinen Konflikt mit den alten Seilschaften, nämlich der Interessenkoalition aus Schwerindustrie, Energiewirtschaft und Gewerkschaft IG Bergbau. Als er 2002 in das Kabinett von Gerhard Schröder wechselte, befand sich das einstige wirtschaftliche Musterland endgültig im Zustand der Rezession. Die Quittung dafür erhielt die SPD 2005, denn die CDU unter Jürgen Rüttgers gewann die Landtagswahl. Der Wahlausgang veranlasste Schröder nach Abstimmung mit Franz Müntefering zu einer vorgezogenen Bundestagswahl, die für die SPD ebenfalls verloren ging.
Hannelore Kraft, die aus der NRW-Wahl von 2010 als relative Siegerin hervorgegangen war, zunächst eine Minderheitsregierung führte und erst nach der vorgezogenen Neuwahl von 2012 über eine ausreichende parlamentarische Mehrheit verfügte, hätte vorgewarnt sein müssen. Der überfällige Strukturwandel an Rhein und Ruhr verlangte nach einer sozialverträglichen Umsetzung, andernfalls würde der SPD ihr Stammland für lange Zeit verloren gehen. Eine Rückbesinnung auf sozialdemokratische Inhalte hätte jedoch die radikale Ablehnung von Schröders Agenda bedeutet, die auch unter Angela Merkel gültig blieb.
Doch es kam anders. Langjährig Beschäftigte, vor allem ältere Menschen, wurden in die Langzeitarbeitslosigkeit getrieben; jüngere in Leiharbeitsverhältnissen unter Kuratel gestellt. Der akademische Nachwuchs wurde von einem befristeten Arbeitsverhältnis ins nächste weitergereicht. Arbeitnehmer wurden endgültig zu Kostenfaktoren degradiert.
Unter Hinweis auf die hohen Staatsschulden wurde gespart, vor allem an der technischen Infrastruktur, an der Bildung, am Gesundheitswesen und der inneren Sicherheit. Dabei sind Staatsschulden volkswirtschaftlich nichts anderes als Steuern, die man denen nicht abverlangt, die sie verschmerzen könnten.
Als die so genannte Flüchtlingskrise politisches Handeln und nicht Zuwarten erforderte, gerierten die längst existierenden Ghettos türkischer Einwanderer ins Bewusstsein der Bevölkerung. Dies vor allem in den Kernzentren des Ruhrgebiets, in Dortmund, Herne, Gelsenkirchen oder Oberhausen. Dort gab es schon seit längerer Zeit rechtsradikale Gruppen, vielfach getarnt als Fans der Fußballvereine (in Dortmund war die „Borussen-Front“ aktiv). Die Funktionäre von SPD und Grünen waren nicht dazu bereit, die unübersehbare katastrophale Stimmung an der Basis nach oben weiter zu melden. So war es kein Wunder, dass Hannelore Kraft sich nach außen so unbekümmert gab wie einst Erich Honecker in den letzten Jahren der DDR. Profitiert hat davon vor allem die AfD.
Der Linken hingegen mangelte es an inhaltlicher Kompetenz und äußerer Ausstrahlungskraft. So unerotisch wie sie ist selten eine politische Partei in den Wahlkampf gegangen.
Armin Laschets CDU, ein Muster an Profillosigkeit (wenn man von ihrer grundsätzlichen Zustimmung zu allen denkbaren politischen Vorurteilen absieht), und jener Korpus namens FDP, der nur aus Hülle und eingeblasener Luft sowie einem karrieresüchtigen Vorsitzenden besteht, gingen als Sieger aus diesem Rennen hervor. Es scheint so, als hätte es in NRW keine Programme, keine Persönlichkeiten und keine seriösen politischen Phantasien, also eine wirkliche Wahl, gegeben.
Ein Land ohne Eigenschaften mag nichts anderes verdienen. Aber dieser Sog des Mittelmaßes könnte endgültig die gesamte Bundesrepublik erfassen. Und Martin Schulz, der zu früh als Überwinder der Verhältnisse hochgelobt wurde, wird möglicherweise nichts anderes übrig bleiben als die Grabrede für seine Partei zu halten.
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