Wenn eine gute Idee unter die Schaumschläger gerät
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Es war aus der Not geboren, nämlich aus den hierzulande spürbaren Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine.
Es sollte den Energieverbrauch reduzieren, vor allem den von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor. Und gleichzeitig Signal, gar Fanal sein für ein Verkehrskonzept, das aus der Klimakrise herausführen und eine Katastrophe vermeiden könnte. Dieser Fahrschein überwand sogar die deutsche Kleinstaaterei und berechtigte zur Benutzung aller Nahverkehrs- und Regionalzüge. Mehr als 52 Millionen Karten wurden von Juni bis August verkauft. Und ihre geradezu exzessive Nutzung machte den maroden Zustand der Verkehrsinfrastruktur deutlich.
Letztere wird seit 30 Jahren bewusst zu Tode gespart. Das Gift, das man ihr in hoher Dosis verabreicht, heißt Privatisierung und wird euphemistisch umschrieben mit Deregulierung und Liberalisierung. Neben der Deutschen Bundesbahn wurde auch die Deutsche Bundespost samt ihrer Töchter Postbank und Telekom ihrer gemeinwirtschaftlichen Aufgaben entledigt. Die Postbetriebe wurden vollständig privatisiert, die Bahn hingegen befindet sich in einer Art Wartestellung zwischen Staats- und Privatbetrieb, was die herrschende Verantwortungsdiffusion noch verstärkt.
Als Gymnasiast benutzte ich an jedem Schultag die Bahn, um von dem Vorort, in dem ich wohnte, zur Schule in der Innenstadt zu gelangen. Während dieser neun Jahre gab es keine einzige nennenswerte Verspätung. Auch nicht bei Regen, Sturm, Schnee und Eis. Damals warb die Bundesbahn mit dem Slogan: „Alle reden vom Wetter, wir nicht.“ Würde man das Motiv heute plakatieren, erntete man böses Gelächter. Denn die Bahn ist unter die Räder gekommen. Manövriert von Leuten wie dem derzeitigen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Ihm verdanken die enttäuschen neuen und alten Bahnnutzer, dass es mit dem 9-Euro-Ticket zumindest vorerst ein Ende hat. Lindner sind die 2,5 Milliarden Zuschuss, die der Bund den Ländern zahlte, zu viel Geld, für das es keine Gegenfinanzierung gäbe. Allerdings hat der Politiker dabei vergessen, dass die Kosten für den Straßen- und Brückenbau einschließlich Sanierung im Jahr 2020 bei 14,2 Milliarden Euro lagen. Eine direkte Refinanzierung durch die Nutzer, etwa durch eine Maut, erfolgt nicht. Das Geld stammt aus den Etats von Bund und Ländern und wird von allen steuerzahlenden Bürgern aufgebracht.
Der Bundesfinanzminister ist übrigens ein Minister, der gar keinen wesentlichen Gestaltungsfreiraum besitzt. Er ist eine Art Bilanzbuchhalter, der darüber zu wachen hat, ob der vom Bundestag beschlossene Haushalt korrekt verwendet wird und der dafür Sorge trägt, dass die Finanzbehörden den Steuerfluss garantieren. Die Kabinettskolleginnen und -kollegen und der Bundeskanzler, der die Richtlinien der Politik bestimmt, könnten ihn sogar an den Katzentisch verweisen und zum Befehlsempfänger degradieren. Doch sie tun das nicht. Möglicherweise, weil der Koalitionsvertrag Zuständigkeiten regelt, die dort gar nicht geregelt werden dürfen.
Das Amt des Bundesfinanzministers erfährt seit der Berufung von Christian Lindner eine besondere Bedeutungslosigkeit. Der Minister ist zwar ein brillanter Schaumschläger, füllt aber die Funktion des Oberbilanzbuchhalters fachlich nicht aus; mutmaßlich versteht er die Bilanzen nicht. Stattdessen übt er sich in einem besonderen Ritus, den er für publikumswirksam hält. Im permanenten Sprechgesang mahnt er die Einhaltung der Schuldenbremse an, was dazu führt, dass das Mantra Schulden allmählich lächerliche Züge annimmt, dafür aber ständig auf irgendeine Bremse getreten wird.
Foto:
Typisches 9-Euro-Ticket
© RMV, Collage MRG
Info:
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.bruecke-unter-dem-main.de ©