Veröffentlichungen des Paritätischen Gesamtverbandes, Berlin, Teil 302
Der Paritätische
Berlin (Weltexpresso) - Das Landessozialgericht Sachsen (Urteil vom 6.12.2022; L 4 AS 939/20) hat eine wichtige Entscheidung zum Anspruch auf SGB II-Leistungen für Unionsbürger*innen in familiären Konstellationen getroffen: Eine EU-Bürger*in hat mit einem geduldeten tunesischen Staatsbürger ein gemeinsames Kind, die Eltern sind nicht miteinander verheiratet, die Mutter ist während der Schwangerschaft „betriebsbedingt“ gekündigt worden. Das LSG Sachsen hat darin zum einen festgestellt, dass in diesem Fall der fortwirkende Arbeitnehmer*innenstatus nicht nach sechs Monaten endet, sondern sich um die Zeit des Mutterschutzes verlängert.
Zum anderen führt der Schutz der Familie dazu, dass auch danach ein Anspruch auf SGB-II-Leistungen besteht, weil für die EU-Bürger*in ein fiktiver Anspruch auf ein humanitäres oder familiäres Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG besteht.
1. Die Zeit des Mutterschutzes wird nicht auf die Dauer des fortwirkenden Arbeitnehmer*innenstatus angerechnet, sondern diese Fortwirkung verlängert sich über sechs Monate hinaus um die Dauer der Mutterschutzzeit. Auch während der Mutterschutzzeit besteht Anspruch auf SGB-II-Leistungen. Die Frau hatte vor der Schwangerschaft weniger als ein Jahr eine Erwerbstätigkeit ausgeübt. Sie ist dann kurz nach Bekanntwerden der Schwangerschaft (rechtswidrig) gekündigt worden, so dass ihr Arbeitnehmer*innenstatus (und ihr Leistungsanspruch beim Jobcenter) für sechs Monate fortbestand. Nach Ablauf der sechs Monate hat das Jobcenter wie üblich die Leistungen eingestellt, da dann nur noch ein Freizügigkeitsrecht zur Arbeitsuche bestehe. Das LSG hat festgestellt, dass sie auch über die Grenze von sechs Monaten hinaus Anspruch auf SGB II-Leistungen hat, weil die dazwischen liegende Zeit des Mutterschutzes gleichsam hinten drangehängt werden muss. Das LSG begründet dies auch damit, dass die Fortwirkung des Arbeitnehmer*innenstatus für sechs Monate unionsrechtlich keine kategorische Obergrenze, sondern vielmehr eine Untergrenze darstellt:
„Einem Unionsbürger, der weniger als ein Jahr lang im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt habe, bleibe jedoch die Erwerbstätigeneigenschaft nur für einen Zeitraum erhalten, dessen Dauer der Mitgliedstaat festlegen dürfe, wobei sie nicht weniger als sechs Monate betragen dürfe. Der Aufnahmemitgliedstaat dürfe nämlich die Dauer der Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft des Unionsbürgers, der im Aufnahmemitgliedstaat eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt hat, begrenzen, doch dürfe er sie gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchstabe c RL 2004/38/EG nicht auf weniger als sechs Monate verkürzen, wenn der Bürger aus von seinem Willen unabhängigen Gründen arbeitslos geworden sei, bevor er ein Jahr Erwerbstätigkeit zurücklegen konnte (vgl. EuGH, Urteil vom 11.04.2019, a.a.O., juris Rn. 43, 45 und 46). Dies zugrunde gelegt, setzt der Ablauf der 6-Monatsfrist voraus, dass der Betroffene zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hierfür zur Verfügung steht. Ist er daran insbesondere durch vorübergehende Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall gehindert, bleibt ihm die Arbeitnehmereigenschaft ggf. auch über diesen Zeitraum hinaus erhalten. (…) Der vom Senat vorgenommenen Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU steht im Übrigen auch nicht Art. 7 Abs. 3 Buchstabe c RL 2004/38/EG selbst entgegen. Denn es ist ausdrücklich bestimmt, dass die Frist mindestens sechs Monate beträgt, somit auch länger sein kann.“
Darüber hinaus argumentiert das LSG, dass eine andere Auffassung eine unzulässige Diskriminierung von Frauen darstellen würde:
„Die Auslegung ist zur Überzeugung des Senats auch zur Abwendung einer, gemäß Art. 14 der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (RL 2006/54/EG) unzulässigen, zumindest mittelbaren Diskriminierung von Frauen beim Zugang zur Beschäftigung und unter Beachtung von Art. 3 Abs. 2 Satz 1 sowie Art. 6 Abs. 4 GG geboten. Denn durch ein abweichendes Verständnis würden schwangere und gebärende EU-Bürgerinnen allein durch den Umstand, dass sie während des Mutterschutzes schwangerschaftsbedingt wesentlichen Änderungen ihrer Lebensbedingungen ausgesetzt sind und deshalb die Ausübung ihrer Berufstätigkeit berechtigt aussetzen können, hinsichtlich der Arbeitnehmereigenschaft gegenüber Männern nachteilig behandelt und somit in ihrer Möglichkeit, sich in einem anderen Mitgliedsstaat aufzuhalten und eine neue Beschäftigung aufzunehmen, rechtswidrig beschnitten.
2. Es besteht zumindest im ersten Lebensjahr des Kindes für die EU-Bürgerin und das Kind ein (fiktives) Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG aus familiären bzw. humanitären Gründen, so dass auch nach Ablauf des fortwirkenden Arbeitnehmer*innenstatus kein Leistungsausschluss vom SGB II greift. Denn in diesem Fall ist fiktiv ein anderes Aufenthaltsrecht als das der Arbeitsuche erfüllt und ein Leistungsausschluss wäre unzulässig. Der Vater übt trotz getrennter Wohnungen das Sorgerecht für das Kind aus. Ein gemeinsames Verlassen des Bundesgebiets wäre unmöglich bzw. unzumutbar (der Vater ist im Besitz einer Duldung und tunesischer Staatsangehöriger): „Dies wiederum hat zur Folge, dass die Verneinung eines gemeinsamen Aufenthaltsrechts den tatsächlich gelebten Familienbund zerrissen und dem Kläger zu 2 entweder die Mutter oder den Vater entzogen hätte, die sich tatsächlich um dessen Erziehung und Pflege kümmerten. Dies widerspräche Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG.“
Dies gilt auch, obwohl der Mutter und dem Kind tatsächlich keine Aufenthaltserlaubnis nach dem AufenthG erteilt worden ist. Das Jobcenter ist vielmehr verpflichtet in eigener Verantwortung zu prüfen, ob ein fiktiver Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis bestehen würde. Dabei sind auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben an den Schutz der Familie (Art. 6 GG) und die Pflicht zum Schutz des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen.
„Ausgehend davon ist der Senat der Überzeugung, dass beiden Klägern, vermittelt durch § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. (Anmerkung: jetzt § 11 Abs. 14 FreizügG) i.V.m. §§ 27 ff. bzw. § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1, 2 Satz 1 GG, Art. 8 Abs. 1 1. Alt. EMRK jedenfalls ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen und damit eine günstigere Rechtsposition i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 11 Freizüg/EU a.F. im hier streitigen Zeitraum zustand. Dass ein solcher (befristeter) Aufenthaltstitel nicht erteilt worden war, ist dabei für die Frage des Ausschlusses nach § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II irrelevant. Es genügt für die Kläger als EU-Bürger allein das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen eines Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG, um nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen zu sein.“