Hanswerner Kruse
Schlüchtern (Weltexpresso) - Einen Tag lang besuchte ich die die ehrenamtlichen Helferinnen in der Schlüchterner Ausgabe der Tafel und begleitete den Fahrdienst im Berwinkel.
Bereits am frühen Vormittag treffe ich Horst Schmitt (63) und Amiri Mirjawad (25) vor der Schlüchterner Ausgabe gegenüber dem Krankenhaus. Mit dem dort abgestellten Transporter fahren wir acht Supermärkte und zwei Bäckereien in Sterbfritz und Schlüchtern an. Die beiden Ehrenamtlichen kannten sich nicht, weil abwechselnde Fahrer und Begleiter die Fahrten übernehmen. Es ist immer der gleiche Ablauf: einer geht in den Markt zum Verantwortlichen, der die überschüssigen Waren ausgibt. Der andere fährt währenddessen an die Rampe.
Mal bekommen sie sehr, sehr viele Kisten, heute fünf mit Zwiebeln, manchmal eher weniger. Überraschenderweise gibt es Topfblumen oder Kinderspielzeug. Die Ware ist kurz vor dem Ablaufen des Verfallsdatums oder hat kleine Macken, manchmal werden Dinge aus dem Sortiment gestrichen. Natürlich ist auch mal was Schimmeliges dabei: „Als könnten die das nicht selbst raussuchen“, grummelt einer der beiden.
Die Backwaren werden gleich in die Schlüchterner Ausgabe gefahren, die übrigen Kisten in Steinau abgeladen. Hier sind einige Freiwillige bereits mit dem Sortieren der Lieferungen beschäftigt, bald kommen zur nächsten Schicht andere Ehrenamtliche, die unsere Ladung durchsehen. Dann werden die Kisten ins Auto geladen, die heute in Schlüchtern ausgegeben werden.
Ein kleines Mädchen quietscht vor Freude, als sie nachmittags Marion Klingelhöfer (Foto rechts) am Fenster der Tafel-Ausgabe erkennt. Sogar auf türkisch fragt die Tagesmutter und Tafel-Helferin ein älteres Mädchen: „Willst du den kleinen Stoffbären haben?“ Die meisten Klienten begrüßt sie mit Namen, die sich ihre gemischte Kiste für 5 Euro abholen. Dazu können sie Backwaren bekommen, heute tatsächlich tiefgekühlte Pizzen und Blumensträuße. Rund 40 Körbe mit Obst, Gemüse und verpackten Lebensmitteln gehen an diesem Freitag über die Theke, genauso viele, wie jeweils am Dienstag oder Mittwoch in Schlüchtern an weitere Bedürftige.
Alle müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen, bevor sie den Abholchip bekommen. Derzeit herrscht auch im Bergwinkel ein Aufnahmestop. Es ist ein fröhliches, aber gut funktionierendes Durcheinander, in dem heute die drei Frauen zwischen 77 und 25 Jahren arbeiten. Klingelhöfers Mithelferin Romi Bötcher (Foto Mitte) ist seit zehn Jahren dabei, weil sie nach ihrer Pensionierung als Lehrerin etwas Soziales machen wollte. Laura Gemsjäger (Foto links) hilft seit einem Jahr in der Ausgabe. Sie studiert Soziologie, will ihre Bachelor-Arbeit über die Tafel schreiben und hat bereits einige Klienten interviewt. Anschließend ist sie dabeigeblieben. Nach zwei Stunden sind alle Kisten ausgegeben. Die Helferinnen müssen nun noch aufräumen und die Abrechnung erledigen.
Hinter den vier Ausgaben in Schlüchtern, Steinau, Bad Soden und Sterbfritz ist eine unglaubliche Organisationsarbeit zu bewältigen. 170 Freiwillige müssen koordiniert werden, für ihren Einsatz ist Gabriele Pricop zuständig. Gerlinde Möllerkümmert sich um die Fahrdienste. Ebenfalls helfen diverse Engagierte mit Migrationshintergrund: „Deutschland hat mir geholfen, ich möchte was zurückgeben“, erklärte morgens der aus Afghanistan stammende Amiri.
Etwa 350 Kisten für 800 Personen werden pro Woche insgesamt von der Bergwinkel-Tafel ausgegeben. Die Ehrenamtlichen machen keinen Vollzeitjob, die meisten arbeiten ein- bis zweimal pro Woche wenige Stunden. Für das Büro und Personalmanagement gibt es drei Angestellte auf Minijob-Basis, dazu bezahlte Reinigungskräfte.
Hintergrund: Containern oder Tafel?
„Containern“, nennt man die unerlaubte Entnahme von weggeschmissenen Lebensmitteln aus Behältern der Supermärkte, sie bleibt in Deutschland weiterhin als Diebstahl verboten. In Frankreich oder Tschechien wird dagegen das Vernichten von Nahrungsmitteln geahndet. Aber die deutschen Märkte spenden abgelaufene, überflüssige oder leicht beschädigte Ware inzwischen gerne an die Tafeln, weil das ihr Image verbessert. Lieferungen von großen Mengen kostenloser Lebensmittel werden auch zentral organisiert und können von lokalen Initiativen abgerufen werden. Dennoch werden jährlich insgesamt immer noch elf Millionen Tonnen weggeschmissen. Davon gehen lediglich 265.000 Tonnen an die 970 Tafeln, in denen bundesweit 60.000 Freiwillige mitarbeiten.
Die Tätigkeit der Organisation ist umstritten, auch innerhalb der Ehrenamtlichen. Oft werden in Schlüchtern - wie überall in Deutschland - Bedürftige vom Jobcenter auf die Tafel verwiesen. Wenn dort Bedürftigkeitsprüfungen verlangt oder Wartelisten geführt werden, gibt es manchmal Ärger und Beleidigungen. Doch die Vereinigung ist dazu da um Lebensmittel zu retten, nicht um die Vollversorgung von Bedürftigen zu übernehmen. Politische Kritiker meinen, sie reduziere als Nothilfe den Druck, Armut zu bekämpfen. Corona und Ukrainekrieg haben den Andrang bei den Tafeln verstärkt, während die Spenden weniger werden. Aktuell sucht die Tafel im Bergwinkel noch dringend ehrenamtlich Helfende für einige Arbeitsstunden in der Woche. Kontakt unter 06663 911388.
Foto:© Hanswerner Kruse