ndr12Veröffentlichungen des Paritätischen Gesamtverbandes, Teil 681

Der Paritätische

Berlin (Weltexpresso) - Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 04. Oktober 2024 ein wichtiges Urteil für den Schutz von Frauen aus Afghanistan gefällt. Die systematische Unterdrückung von Frauen durch das Taliban-Regime könne generell als Verfolgung eingestuft werden. Bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft müsse daher nicht geprüft werden, welche spezifischen Verfolgungshandlungen den Antragstellerinnen drohen. Es reiche aus, das Geschlecht und die Staatsangehörigkeit zu überprüfen, um Frauen aus Afghanistan Flüchtlingsschutz zu gewähren.

Seit Machtübernahme der Taliban wurden die Rechte von Frauen und Mädchen in nahezu allen Lebensbereichen in Afghanistan immer weiter massiv eingeschränkt. Frauen dürfen sich nicht allein in der Öffentlichkeit bewegen, sie unterliegen strengen Kleiderordnungen, sie dürfen keine weiterführenden Schulen besuchen, sie unterliegen Berufsverboten, sind einer schlechten medizinischen Versorgung ausgesetzt, ihnen wird die Teilhabe am politischen Leben verwehrt und vieles mehr. Die Zahl der Zwangsverheiratungen ist stark angestiegen. Rechtsschutz und Hilfsmechanismen vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt wurden erheblich verringert.[1]

Ein Großteil dieser diskriminierenden Maßnahmen rechtfertigten bei einer individuellen Prüfung auch schon bisher eine Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Qualifikations-Richtlinie. Da diese Diskriminierungen jedoch in ihrer Gesamtheit so massiv und alltäglich sind, hat der EuGH mit seinem Urteil[2] vom 4. Oktober 2024 (verbundene Rechtssachen C‑608/22 und C‑609/22, AH und FN gegen Österreich) entschieden, dass der diskriminierende Umgang des Talibane-Regimes mit Frauen in Afghanistan insgesamt als Verfolgung einzustufen ist. Der EuGH stellt fest, dass die kumulative Wirkung der diskriminierenden Maßnahmen die durch Art. 1 der Charta der Grundrechte der EU gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigt. Durch diese systematische Unterdrückung können Frauen generell als eine verfolgte Gruppe verstanden werden.

Des Weiteren sei die für Asylverfahren zuständige nationale Behörde (in Deutschland das BAMF) nicht verpflichtet, bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft festzustellen, dass einer Antragstellerin bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen drohen. Die persönlichen Umstände einer Antragsstellerin sind in diesem Sinne nicht relevant. Es reicht vielmehr aus das Geschlecht und die Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen, um eine Verfolgung anzunehmen. Damit wären die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes erfüllt. Frauen, die unter den Taliban in Afghanistan lebten und in Deutschland (bzw. in der Europäischen Union) Schutz suchen, haben somit einen Anspruch auf Flüchtlingsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikations-Richtlinie. Aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Staatsangehörigkeit haben sie sehr gute Aussichten auf einen positiven Bescheid.

Anlass für die Entscheidung des EuGH waren Klagen von zwei Frauen aus Afghanistan in Österreich. Ihnen war lediglich subsidiärer Schutz zugesprochen worden. Sie wendeten sich gegen die Weigerung der österreichischen Behörden, sie als Flüchtlinge anzuerkennen mit dem Argument, dass die Situation der Frauen in Afghanistan allein schon die Gewährung des Flüchtlingsstatus rechtfertige. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof wandte sich an den EuGH. Er fragte auch, ob ein EU-Mitgliedstaat einer afghanischen Frau allein aufgrund ihres Geschlechts Asyl gewähren könne. Der EuGH bejahte dies nun mit seiner Ansicht, dass Frauen in Afghanistan grundsätzlich verfolgt werden.
Was bedeutet das EuGH-Urteil für den Schutz von Frauen aus Afghanistan in Deutschland? Welche Auswirkungen hat das Urteil auf die Asylverfahren?

Knapp 20% aller Schutzsuchenden aus Afghanistan, die im Jahr 2023 einen Asylerstantrag in Deutschland stellten, sind Frauen.[3] Insgesamt wurde 2023 über 12.818 Asylanträge von Frauen aus Afghanistan entschieden: Davon erhielten 308 eine Asylanerkennung nach Art. 16a GG und 8.041 Frauen wurde vom BAMF Flüchtlingsschutz nach § 3 Abs. 1 AsylG zugesprochen. 447 Frauen erhielten subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG und 2.139 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Ablehnungen gab es 16, sonstige Verfahrenserledigungen (u.a. Dublin-Fälle) 1.867. [4]

Das bedeutet, dass ein Großteil der schutzsuchenden Frauen aus Afghanistan auch bislang schon im Rahmen einer individuellen Prüfung Flüchtlingsschutz erhalten hat. Die aktuelle Entscheidung des EuGH kann aber dazu beitragen, dass die Entscheidungspraxis von BAMF und Gerichten vereinfacht wird und künftig in dieser Frage einer klaren Linie folgt. Das BAMF muss nun prüfen, wie es mit dem Urteil in seiner Entscheidungspraxis umgehen wird. Es ist an die Rechtsauffassung des EuGH gebunden.

Der Paritätische begrüßt das EuGH-Urteil, denn es stärkt die Rechte Schutz suchender Frauen aus Afghanistan in Europa. Es ist ein wichtiges Zeichen gegen die frauenfeindlichen Strukturen in patriarchalen Gesellschaftssystemen. Aber auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Diskussion um Abschiebungen, ist dieses Urteil eine wichtige Erinnerung an die gravierende Lage der Menschenrechte in Afghanistan.


[1] Quelle: siehe u.a. www.amnesty.de/informieren/laender/afghanistan sowie International Commission of Jurists, amnesty international (2023): The Taliban’s war on women. The crime against humanity of gender persecution in Afghanistan, www.amnesty.ch/de/laender/asien-pazifik/afghanistan/dok/2023/behandlung-von-frauen-und-maedchen-durch-taliban-ist-moeglicherweise-verbrechen-gegen-die-menschlichkeit/taliban-war-on-women_icj-ai-afghanistan-report_final.pdf

[2] Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 4. Oktober 2024, Verbundene Rechtssachen C-608/22 und C-609/22: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62022CJ0608

[3] Im Jahr 2023 gab es insgesamt 51.275 Asylerstanträge von Schutzsuchenden aus Afghanistan, davon waren 9.445 weibliche Antragsteller*innen, das macht einen Anteil von 18,42% bzw. gerundet 20%, Quelle: BAMF (2024): Das Bundesamt in Zahlen 2023, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/BundesamtinZahlen/bundesamt-in-zahlen-2023.pdf

[4] Quelle: Deutscher Bundestag, Drucksache 20/12228 vom 08.07.2024, Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage der Gruppe Die Linke – Drs. 20/11493 – Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das Jahr 2023 und aktuelle Daten.

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