Erzbistum BerlinVeröffentlichungen des Paritätischen Gesamtverbandes, Teil 811

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Nachdem die Bundesregierung im vergangenen Jahr im Eilverfahren einen Ausschluss von Sozialleistungen für "Dublin-Fälle" verankert hatte, findet dieser nun vermehrt Anwendung. In einem Fall bestätigt sich die gravierende Gefahr von Obdachlosigkeit, vor denen unter anderem der Paritätische gewarnt hatte. Nur ein Eilverfahren innerhalb weniger Stunden konnte die betroffene Person vor der Räumung aus der Gemeinschaftsunterkunft bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt bewahren. In anderen Verfahren haben die Gerichte den Leistungsausschluss aufgrund möglicher Verfassungs- bzw. Europarechtswidrigkeit vorerst ausgesetzt. Damit bestätigen sich die Warnungen, die von zivilgesellschaftlicher Seite im Gesetzgebungsprozess geäußert wurden.


Im sogenannten „Sicherheitspaket“ hatte die Bundesregierung im vergangenen Jahr einen Leistungsausschluss im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verankert. Dieser betrifft unter bestimmten Voraussetzungen sogenannte "Dublin-Fälle", also Personen, für deren Asylantrag gemäß der Dublin-III-Verordnung ein anderer Mitgliedsstaat zuständig ist. Bei der Verbändebeteiligung wie auch bei der Sachverständigenanhörung wurde die Regelung u.a. vonseiten der Zivilgesellschaft, darunter dem Paritätischen Gesamtverband, als verfassungs- und europarechtswidrig kritisiert und vor Verelendung und Obdachlosigkeit gewarnt. Der Paritätische hatte in einem Brief an die Innenminister*innen der Länder zudem auf die drohende Problematik einer fehlerhaften Rechtsanwendung durch die zuständigen Behörden hingewiesen und gefordert, dass die Länder von der Anwendung des Leistungsausschlusses absehen.

Diese Warnungen stellen sich nun als begründet heraus, insbesondere hinsichtlich drohender Obdachlosigkeit. Ein solch drastischer Fall wurde am 19.02.2025 vor dem Sozialgericht Karlsruhe verhandelt (SG Karlsruhe, S 12 AY 424/25 ER). Der betroffenen Person wurde mit Verweis auf den Leistungsausschluss der Rauswurf aus der Gemeinschaftsunterkunft angedroht und die Schlösser zu ihrem Zimmer bereits ausgetauscht. Laut Gerichtsbeschluss hatte sich die Person keinerlei Fehlverhalten zuschulde kommen lassen. Das zuständige Gericht beschloss innerhalb weniger Stunden einem Eilantrag gegen den Ausschluss stattzugeben, unter anderem mit Verweis auf die Unvereinbarkeit der Regelung mit Grundgesetz und Europarecht. Die Gefahr von Obdachlosigkeit, vor der die Zivilgesellschaft regelmäßig gewarnt hatte, ist somit nicht von der Hand zu weisen und bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt unmittelbar lebensbedrohlich. Dabei ist zu bedenken, dass nicht jede Person anwaltlich vertreten wird und sich gegen die Leistungsausschlüsse wehren kann. Insofern ist nicht auszuschließen, dass Personen aufgrund der neuen Regelung tatsächlich rechtswidrig in die Obdachlosigkeit entlassen wurden.

Auch in anderen Gerichtsverfahren bestätigen sich die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahren vorgebrachten Warnungen. So geht das Sozialgericht Speyer in einer Nachricht an die zuständige Behörde davon aus, dass die Regelung verfassungs- und europarechtswidrig sei. Das Sozialgericht Trier äußert Zweifel an der Konformität mit Europarecht, da bis zur tatsächlichen Abschiebung oder Ausreise die Aufnahmerichtlinie Anwendung finden müsse und der Leistungsausschluss nicht unter die dort normierten Tatbestände für die Absenkung oder den Entzug von Leistungen falle (SG Trier, S 3 AY 4/25 ER). Verwiesen wird regelmäßig auch auf einen noch anhängigen Vorlagenbeschluss des Bundessozialgerichts zur europarechtlichen Konformität der mittlerweile aufgehobenen Sanktionen für Dublin-Fälle in § 1a Abs. 7 AsylbLG-aF. Die Vereinbarkeit mit Europarecht sei mit Blick auf dieses Verfahren zweifelhaft bzw. eine Unvereinbarkeit bis zur Entscheidung des EuGH nicht auszuschließen und der Leistungsausschluss daher vorerst nicht anzuwenden (u.a. SG Landshut, S 11 AY 19/24 ER, SG Darmstadt, S 16 AY 2/25 ER, SG Trier S 3 AY 4/25 ER).

Aus vorliegenden Beschlüssen wird auch ersichtlich, dass es zu Fehlern in der Rechtsanwendung kommt. So stellen Behörden für den Ausschluss regelmäßig bloß auf den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ab, in dem die Unzulässigkeit des Asylantrags beschieden und eine Abschiebung angeordnet wird. Mit diesem Bescheid ist jedoch in der Regel nicht die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Ausreise festgestellt worden, die ebenfalls Voraussetzung für den Leistungsausschluss ist (u.a. SG Trier, S 3 AY 4/25 ER). So ergingen Leistungsausschlüsse bspw. auch dann, wenn wie im Falle Italiens keine Ausreisemöglichkeit bestand und die Übernahmebereitschaft durch den zuständigen Staat auch nicht als gewährleistet betrachtet werden konnte (SG Landshut, S 11 AY 19/24 ER). Dies geht mitunter auch auf die widersprüchlichen Aussagen in Normtext und Gesetzesbegründung zurück, auf deren Problematik der Paritätische bereits in seinem Brief an die Innenminister*innen der Länder hingewiesen hatte. Unzulässig dürfte laut erster Rechtsprechung darüber hinaus auch sein, wenn Behörden nach dem Wegfall einer bereits angeordneten Leistungskürzung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG-aF ohne erneute Prüfung einen Leistungsausschluss bescheiden (u.a. SG Osnabrück).

Angesichts dieser Umstände sollte die Anwendung des Leistungsausschlusses unverzüglich ausgesetzt und alle Fälle von Amts wegen überprüft werden, in denen Personen auf Grundlage der neu geschaffenen Regelung Leistungen verweigert wurden. Als positives Beispiel zu nennen ist hierbei Rheinland-Pfalz, das in einem Erlass die Europarechtswidrigkeit des Leistungsausschlusses feststellt und bis zur Ausreise bzw. Überstellung in den zuständigen Staat zumindest Überbrückungsleistungen vorsieht. Allerdings kommt es wohl auch hier zu Leistungsausschlüssen durch zuständige Behörden, wie ein Schreiben des Sozialgerichts Speyer nahelegt.

Nicht nur birgt der Leistungsausschluss für die Betroffenen die Gefahr von Obdachlosigkeit oder äußerster Prekarität. Die jüngsten Urteile zeigen, dass migrationspolitischen Maßnahmen, die auf Abschreckung durch die Einschränkung oder den Entzug sozialer Leistungen setzen, vor den Gerichten wenig Erfolg beschieden ist. Die kommende Bundesregierung sollte daher von weiteren Verschärfungen des AsylbLG, bspw. in Form von Leistungskürzungen für alle ausreisepflichtigen Personen oder verschärfte Bezahlkarten, Abstand nehmen. Vielmehr sollte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtswidrigkeit der Sonderbedarfsstufen in § 3a AsylbLG vollumfänglich – d.h. auch für Leistungen nach § 2 AsylbLG – umgesetzt werden.

Darüber hinaus fordert der Paritätische die Eingliederung der Betroffenen in die sozialen Regelsysteme, statt Geflüchteten bloß Leistungssätze unterhalb des Existenzminimums und einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversogung zu gewähren. Dabei ist eine menschenwürdige Sicherung des Existenzminimums nicht nur an sich erstrebenswert - soziale Sicherheit für Geflüchtete und eine gute Versorgung physischer und psychischer Leiden sind langfristig im Sinne aller Menschen.

Dokumente zum Download

Stellungnahme des Paritätischen Gesamtverbands zum "Sicherheitspaket" (195 KB)

Brief des Paritätischen Gesamtverbands an die IMK (122 KB)

Weiterführende Links

Sachverständigenanhörung zum Sicherheitspaket im Innenausschuss inkl. Stellungnahmen


Foto:
©Diakonie Berlin