Veröffentlichungen des Paritätischen Gesamtverbandes, Teil 876
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Bereits seit Monaten wird über die Rechtmäßigkeit von Grenzkontrollen und Zurückweisungen an den deutschen Binnengrenzen diskutiert. Mit seiner Weisung vom 07.05.2025 an die Bundespolizei hat der neue Innenminister Alexander Dobrindt nun eine vermeintliche “mündliche Weisung” aus dem Jahr 2015 zurückgenommen und gleichzeitig darüber informiert, dass ab sofort an den deutschen Binnengrenzen auch Personen zurückgewiesen werden könnten, die um Asyl ersuchen. Ausgenommen werden könnten davon „erkennbar vulnerable Personen“.
Ob mit oder ohne Weisung ist festzuhalten: Sowohl die fortgesetzten Grenzkontrollen als auch die Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Binnengrenzen sind europarechtswidrig und müssen so schnell wie möglich beendet werden.
Falsch ist bereits die der aktuellen Weisung zugrunde liegende Annahme, dass es im Jahr 2015 einer “mündlichen Weisung” bedurft hätte, um Asylsuchende an den deutschen Grenzen einreisen zu lassen. Denn damals wie heute gilt der Vorrang des Europarechts vor nationalem Recht, was bedeutet, dass § 18 Asylgesetz europarechtskonform ausgelegt werden muss. Gemäß der sog. Dublin-III-Verordnung muss deshalb zumindest ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates für das Asylverfahren durchgeführt werden, das direkten Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Binnengrenzen entgegensteht.
In der aktuellen Diskussion wird deshalb auf eine vermeintliche Notlage infolge einer hohen Zahl von Asylsuchenden verwiesen, um eine Ausnahme von den Regelungen der Dublin-III-Verordnung zu rechtfertigen. Eine solche Notlage soll die Abweichung von europarechtlichen Vorgaben rechtfertigen, insbesondere unter Berufung auf Art. 72 des Arbeitsvertrages der europäischen Union (AEUV). Auf diese Regelung hatte sich auch der Bundesinnenminister auf Nachfrage berufen, wohl auch, um die fortgesetzten Binnengrenzkontrollen innerhalb des Schengener Grenzkodexes rechtfertigen zu können.
Mit Blick auf Art. 72 AEUV ist aber zunächst festzustellen, dass dieser gar nicht einschlägig sein dürfte, da sowohl die Dublin-III-Verordnung (Artikel 33) als auch der Schengener Grenzkodex (Art. 25ff) über eigene (vorrangig anwendbare) Ausnahmeklauseln verfügen. In der Sache viel relevanter dürfte aber sein, dass nach keiner der hier einschlägigen Normen eine Notlage im Sinne des Europarechts existiert, die eine Ausnahme von der Anwendung der Dublin-Regelungen rechtfertigen können. Die Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof hieran stellt, sind nämlich sehr hoch - und im Falle überforderter Strukturen verlangt der EuGH von den Mitgliedstaaten in der Regel eine bedarfsgerechte Anpassung der Strukturen anstelle einer Aussetzung von EU-Recht. Mit Blick auf die massiv gesunkenen Asylantragszahlen in diesem Jahr ist Deutschland aber von einer außergewöhnlichen Überforderungssituation, die der EuGH fordert, ohnehin weit entfernt.
Eine ausführliche rechtliche Einordnung finden Sie hier: https://verfassungsblog.de/zuruckweisung-grenze-kontrolle-dobrindt/
Hinzu kommt, dass es entgegen der Aussagen im Kolaitionsvertrag augenscheinlich keine Absprachen und Verfahren mit den Nachbarstaaten gibt und mit der aktuellen Zurückweisungspolitik auch die europäische Solidarität sowie die Existenz des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems insgesamt gefährdet werden. So kritisiert bspw. die polnische Regierung das Vorgehen Deutschlands scharf und hat jüngst erst die Übernahme zweier zurückgewiesener Asylsuchender abgelehnt, die nun in einer deutschen Erstaufnahmeeinrichtung leben.
Und höchst problematisch stellt sich auch der Umgang mit vulnerablen Personen dar, von denen laut Weisung des BMI lediglich die „erkennbar vulnerablen“ von den Zurückweisungen ausgenommen werden sollen. Allerdings hat das BMI weder festgelegt, was unter „erkennbar vulnerablen Personen“ überhaupt verstanden werden soll, noch Leitlinien oder Verfahren an die Hand gegeben, nach der eine Prüfung auf solche Vulnerabilitäten erfolgen sollte. Durch die Reduzierung auf „erkennbare“ Vulnerabilitäten drohen zudem nicht-sichtbare Vulnerabilitäten wie psychische Erkrankungen oder Traumata erst gar nicht von der Weisung erfasst zu sein, obwohl sie rechtlich durch die Mitgliedsstaaten zu erfassen und zu berücksichtigen sind. Auch bleibt beispielsweise unklar, wie mit Familien zu verfahren ist: Wird eine schwangere Frau und ein sie begleitendes Kleinkind nach Deutschland eingelassen, der Vater beider Kinder aber zurückgewiesen? Ohne standardisierte Verfahren drohen Einreise oder Zurückweisung vulnerabler Personen davon abzuhängen, welchen Beamt*innen die betroffenen Personen begegnen.
Die Zurückweisungen sollten aus den vorgenannten Gründen eingestellt werden, bevor sie größeren Schaden anrichten. Neben der Infragestellung europäischem Rechts sendet die Bundesregierung damit ein Signal, das für den Flüchtlingsschutz in Deutschland, aber auch international fatale Konsequenzen haben kann. Stattdessen sollten die Integrations- und Aufnahmestrukturen gestärkt und auf einen solidarischen europäischen und internationalen Flüchtlingsschutz hingewirkt werden, in dem alle Staaten ihren fairen Anteil leisten.
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