Zusammenfassung Berlinale 2019: 1
Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Hochemotional geht es am ersten Berlinale-Wochenende zu mit extremen, radikalen, packenden Geschichten, die tiefe Schläge in die Magengrube versetzen. So vielversprechend startete das Festival lange nicht mehr, in seiner letzten Ausgabe hat sich der scheidende Festspielchef Dieter Kosslick sichtlich ins Zeug gelegt.
Allen voran die neunjährige Benni in dem aufwühlenden deutschen Beitrag „Systemsprenger“ (Helena Zengel), prägt sich tief ins Gedächtnis ein. Wenn sie ausrastet- und das passiert oft und schnell- setzt das Mädchen unbändige Kräfte frei, dann brüllt sie wie am Spieß und schlägt wie ein Berserker um sich, dass selbst erfahrene Sozialarbeiter kapitulieren und nichts mehr hilft als eine Beruhigungsspritze.
Tatsächlich kommt man der kleinen Hauptfigur sehr nahe, arbeitet Nora Fingerscheidt in ihrem aufwühlenden Debütfilm doch die Gründe für Bennis Amokläufe heraus. Nachts wird sie heimgesucht von Alpträumen und Bildern der Gewalt aus ihrer frühen Kindheit, vor allem aber sehnt sich das traumatisierte Kind nach seine Mutter, die aber schon mit zwei weiteren noch jüngeren Kindern überfordert ist und falsche Versprechungen macht, was alles noch verschlimmert. Die Bezugsperson, die Benni emotionalen Halt geben könnte, gibt das System nicht her. Und so wechselt das Mädchen unentwegt zwischen Pflegefamilien, Wohngruppen und stationären Klinikaufenthalten. Es ist eine Stärke des Films, dass er sich auf die Seite des Kindes schlägt, zugleich aber auch die nachvollziehbare Ohnmacht der Erwachsenen zeigt, die mit ihren Bemühungen an ihre Grenzen geraten.
Einen weiteren herausragenden, bärenwürdigen Beitrag bescherte das österreichische Drama „Der Boden unter den Füßen“, in dessen Zentrum eine junge, erfolgreiche Unternehmensberaterin steht, deren Alltag aus dem Lot gerät, als ihre Schwester nach einem Selbstmordversuch in eine psychiatrische Klinik kommt. Lolas hektischer Beruf, der nahezu rundum die Uhr zwischen Meetings, Internet-Konferenzen, Schriftsätzen, Hotelaufenthalten und Handytelefonaten ihren Einsatz fordert, lässt ihr kaum Zeit, sich der Hilfsbedürftigen intensiver zu widmen. Zudem wird ihr der schmale Grat zwischen Aufstieg und Abstieg zunehmend bewusst. Ein Burn-Out könne sich in ihrer Branche niemand leisten, sagt ihre höher gestellte Kollegin, mit der Lola auch eine Liebesbeziehung hat. Subtil und scharfsinnig nimmt Regisseurin Marie Kreutzer ein krankhaftes Berufsbild kritisch unter die Lupe, spart dabei auch die Schattenseiten nicht aus, Profitstreben und Gewissenlosigkeit, wenn die Effizienz er erfordert, Arbeitsplätze abzubauen. Getragen wird die beunruhigende, wie aus dem realen Leben gegriffene Geschichte von vorzüglichen Darstellerinnen. Mit ihrem reifen, nuancierten Spiel erinnert Valeria Pachner in der Hauptpartie an Sandra Hüllers „Toni Erdmann“, ein Silberner Darsteller-Bär wäre ihr zu gönnen.
Dagegen markiert Fatih Akins Krimi-Adaption „Der Goldene Handschuh“, ein Porträt des realen Serienmörders Fritz Honka, den Tiefpunkt des Wettbewerbs. Zwar zeichnet der Deutsch-Türke stimmig das Milieu einer verwahrlosten Unterschicht von vereinsamten, verarmten, in ihrem Elend schon abgestumpften menschlichen Wracks, die sich Abend für Abend in eine Hamburger Spelunke vollaufen lassen. Doch kommt der Film über eine Zustandsbeschreibung nicht hinaus. Eine Antwort auf die Frage, warum sein Held, der Frauen in einem Fort demütigt, schlägt, nötigt, würgt, quält und am Ende zersägt, Interesse verdient, bleibt der Regisseur schuldig. Vielmehr scheint er sich an fetten, unförmigen, nackten Körpern alter Frauen zu delektieren, die er in aller Hässlichkeit exponiert. Geschmacklos ist dafür noch ein milder Ausdruck.
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