Tobias Müller
Zürich (Weltexpresso) - Rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse bringen Filmemacher Ari Folman und Illustrator David Polonsky Anne Franks Tagebuch erstmals als «Graphic Diary» heraus. Entstanden ist das Buch in Israel und der Schweiz.
Was passiert, wenn die letzen Überlebenden der Schoah gestorben sein werden? Wer wird zukünftigen Generationen davon berichten, und wie? Nicht zuletzt: Welcher Medien werden wir uns dabei bedienen? Fragen, die unter anderem den Anne-Frank-Fonds aus Basel seit längerem umtreiben. Eine mögliche Antwort darauf geben in diesem Herbst die israelischen Künstler Ari Folman und David Polonsky: Im Auftrag des Fonds setzten sie in den vergangen Jahren das Tagebuch der Anne Frank in ein «Graphic Diary» um. Das 150 Seiten starke Ergebnis erscheint vorerst in 50 Ländern und ist an der Frankfurter Buchmesse der kommenden Woche präsent. Die deutschsprachige Ausgabe ist ab Ende dieser Woche erhältlich.
Folman und Polonsky, weltweit bekannt durch ihren Oscar-nominierten und mit dem Golden Globe ausgezeichenten israelischen Animationsfilm «Waltz with Bashir» (2008), finden sich in der Mission der Basler Stiftung wieder. Autor Folman, selbst Sohn von Auschwitz-Überlebenden, treibt eine Sorge um: «Bald wird es keine Überlebenden und Zeugen geben und diese Geschichte altertümlich wirken können.» Sein kongenialer Illustrator Polonsky betont, neben dem «grossen Thema», das ihn als Künstler reize, mache just die Verantwortung das Besondere am jüngsten gemeinsamen Werk aus.
Bildgeschichte auf Basis der Originaltexte
Initiiert wurde das Projekt vom Anne-Frank-Fonds Basel gemeinsam mit der Familie Anne Franks 2009. Das neue Genre Graphic Diary stellt somit die erste Umsetzung und Adaption des weltberühmten Tagebuchs dar, das auf Originalen, Familienarchiven und einer umfassenden historischen Recherche beruht. Besonders die Adaption des Originaltexts war dem Anne-Frank-Fonds ein Anliegen.
Für Folman, Polonsky und ihr Team, in dem Yoni Goodman für die Storyboards verantwortlich war, ergab sich daraus die zentrale Herausforderung: Wie kann man dem Tagebuch – ein historisches Dokument, kein Roman – gerecht werden, dem Inhalt gegenüber ehrlich bleiben und den Personen integer, und dabei die eigene künstlerische Freiheit nicht einschränken? Folman und Polonsky betonen, man hätte ihnen diesbezüglich alle Möglichkeiten gelassen. In der Mitteilung des Anne-Frank-Fonds Basel heisst es, «Übertreiben, Kondensieren und erzählerische Lösungen» seien gar «notwendig».
Erweitern durch Verdichtung
Auf den knapp 150 Seiten haben die beiden davon reichlich Gebrauch gemacht. Sie folgen einerseits der strikten Chronologie des Tagebuchs und versehen die Panels mit den entsprechenden Zeitangaben. Autor Folman musste dabei «sehr harte Entscheidungen» treffen, um jeweils 30 Seiten Tagebuch in zehn Seiten Graphic Diary zu transformieren. In diesem Rahmen allerdings sitzen die Künstler am Zoom: Indem sie einzelne Szenen halb- oder ganzseitig aus den Panels herausheben, setzen sie immer wieder ihre eigenen Akzente. Dieses Stilmittel wirkt auf drei unterschiedlichen Ebenen. Es leuchtet zum einen die Persönlichkeit der Protagonistin aus, etwa die immer wieder auftauchende Konkurrenz zur älteren Schwester Margot. Darüber hinaus illustriert es auch das komplexe soziale Gefüge im Hinterhaus an der Prinsengracht, etwa wenn die acht Untergetauchten um den immer spärlicher gedeckten Abendbrottisch als Tiere dargestellt werden, oder als Aufzieh- Figuren, von denen jede einen einzigen, typischen Satz endlos wiederholt. Dabei lassen sie sich vom bemerkenswerten Beobachtungvermögen Anne Franks inspirieren, das Folman bei der Präsentation in Paris mehrfach rühmte. Schliesslich geraten mit der Vergrösserung einzelner Szenen auch der politische und der gesellschaftliche Kontext in den Fokus. Etwa, wenn im besetzten Amsterdam des Sommers 1942 ein Schiffer die Frank-Schwestern, die als Jüdinnen weder Tram noch Fahrräder benutzen dürfen, auf die andere Seite eines Wasserlaufs bringt. Am Ufer steht eine Reklamesäule mit dem Filmposter von «Frauen sind doch bessere Diplomaten». Aus dem Mund der Protagonistin Marika Rökk kommt eine Sprechblase: «Ich trete nicht vor jüdischen Schweinen auf!»
Hommage an ein Schicksal
Polonsky und Folman arbeiten darüber hinaus viele vollständige Briefe Anne Franks an ihre fiktive beste Freundin Kitty ein, umrahmt von Illustrationen. Meistens sind dies Stellen von grosser Intimität, die dem Charakter des Originalwerks mit seiner hochstehenden Qualität an Texten von Anne Frank auch im Graphic Diary gerecht werden sollen. Es geht um tief- und scharfsinnige Reflexionen über das getrübte Verhältnis zur Mutter oder die Ehe der Eltern. David Polonsky nennt das gemeinsame Werk eine «Hommage» an Anne Frank. Ari Folman macht daraus geradezu eine Verneigung, indem er die Grenzen seiner eigenen künstlerischen Mittel einräumt: «Es ist pure Literatur. Es wäre beleidigend, das in grafische Sprache zu übersetzen. Ich denke nicht, dass ich das moralische Recht habe, es anzufassen.»
Mit Verlauf der Handlung wird die starre Ordnung der Panels mehr und mehr geöffnet – für Retrospektiven, Träume und nicht zuletzt Anne Franks Gefühlsleben in der Beziehung mit ihrem Schicksalsgenossen Peter van Pels. Hervorgehoben werden zudem ihre Depressionen, die Ängste vor den Sirenen, die Bomben ankündigen, aber auch Humor. «Es geht darum, die Story zum Leben zu bringen», so David Polonsky. «Und bei dieser Familie macht Humor einen grossen Teil aus. Das Beste, was wir tun können, ist diese Art von Spirit weiterzuführen und als Kunstwerk zu betrachten.»
Für die beiden Künstler ist Holocaust integraler Teil ihres alltäglichen Lebens in Israel. «Kein Tag vergeht, ohne dass er auftaucht», betont Polonsky, dessen unmittelbare Familie in der damaligen UdSSR den Nazis entkommen konnte. Anders sieht das bei Folman aus, seine Eltern kamen am gleichen Tag wie die Franks in Auschwitz an, allerdings mit späteren Zügen. «Wenn Anne über Verhungern und das Fehlen von Brot schreibt, erinnert mich das sofort daran, dass meine Eltern Brot niemals wegwarfen. Mein Vater fror Reste ein, dann machte er Krumen draus und benutzte sie zum Kochen.»
Die Schoah als familiärer Referenzpunkt
Die Vernichtungslager als Referenzpunkt gehörten in Folmans Familie von früher Kindheit an dazu. «Seit ich sechs war, hörte ich Geschichten über den Holocaust. In diesem Sinne war das, was die Familie Frank durchmachte, für mich nichts Sensationelles.» Für seine künstlerische Auseinandersetzung mit Anne Franks Tagebuch, so Folman, sei es ein Vorteil, aus dieser Welt zu kommen. Zugleich erfuhr der Filmemacher durch seine Biografie eine Verpflichtung – das Projekt Graphic Diary wurde zu einer «Mission», die er unbedingt zu Ende bringen musste.
Die Getriebenheit hat einen zweiten Grund: Die letzten Überlebende werden älter und älter.
Ari Folman macht sich Sorgen, dass sich der Blick auf die Schoah nach ihrem Tod immer mehr vom «Original» dessen entfernt, wie sie den erlebten Horror schilderten. Zugleich kommen neue Generationen nach, die für die bisherigen schriftlichen Quellen weniger empfänglich seien. «Sie wachsen auf mit einem Mobiltelefon in der einen Hand und einem Joystick in der anderen. Deshalb sind ihre Werkzeuge völlig anders als die, die wir vor Jahren hatten.»
Betrachtet man das Ganze von Seiten des Anne-Frank-Fonds, ist die Anfrage an Folman und Polonsky logisch. In Basel bemüht man sich schon seit längerem, dem Gedenken neue Ausdrucksformen zu verleihen – etwa mit einem Theaterstück, das 2014 in Amsterdam uraufgeführt wurde. Folman und Polonsky sind aktuell auch mit Arbeiten an einem Animationsfilm beschäftigt, der 2019 fertig werden soll. «Eine globale Antwort habe ich nicht», so der Filmemacher auf die Frage nach einer neuen Sprache der Erinnerung. «Ich weiss nur, dass wir eine finden müssen, sonst wird die junge Generation davonlaufen. Dies ist unser Beitrag.»
Foto:
Ari Folman und David Polonsky im Gespräch mit «Le Monde»-Redaktor Emmanuel Davidenkoff über Anne Frank bei der Präsentation des «Graphic Diary» im Maison de la Poesie in Paris © tachles
Info:
«Das Tagebuch der Anne Frank, Graphic Diary». Umgesetzt von Ari Folman und David Polonsky 2017. S. Fischer Verlage.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 5.Oktober 2017