WIR SIND NICHT DA UM ZU VERSCHWINDEN von Olivia Rosenthal im Ulrike Helmer Verlag, Teil 3
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Vom Verwobensein der verschiedenen Stränge, die die Autorin unsystematisch zusammenbindet, nur so ist es erträglich, wurde schon gesprochen. So streut sie so nebenbei auch die Ursache dafür ein, weshalb die Krankheit A. nach dem Arzt Alois Alzheimer genannt wurde.
Das kann man gar nicht oft genug klarstellen, erneut wird Patientin Auguste D. zum Kronzeugen. „Denn im Anschluss an ihren Tod am 8. April 1906 hatte der Arzt Zugang zur Krankenakte und zum Gehirn der Patientin.“(11) Inwieweit die Autopsie des Gehirns über den Chef – dessenwegen Alzheimer bei seinem nächsten beruflichen Karriereschritt nach Heidelberg und mit diesem nach München ging, den berühmten Kraepelin - als Krankheit A. bekannt wurde, schildert Rosenthal als Ironie des Schicksals. Denn eigenmächtig hatte Kraepelin die von Alzheimer am Gehirn der Auguste D. vorgenommene histologische Untersuchung (Gehirnschnitte) in seinen Vorlesungen verwendet und diese dann in Band I von ‚Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte‘ auch noch publiziert. Wenn er auch den Urheber der Fallstudien und der Krankheitserkenntnis, Alois Alzheimer, nicht um Erlaubnis gefragt hatte, sondern dessen Untersuchungen im eigenen Kontext veröffentlichte, hatte er doch korrekt die Untersuchungsergebnisse Alois Alzheimerzugeschrieben - und nur deshalb wurde später diese Krankheit, die schärfste Form des Gedächtnisverlustes zur Krankheit A.
Kleiner Exkurs: Auf Seite 50 sind alle Krankheiten genannt, die nach ihren entdeckenden Ärzten benannt wurden: von Parkinson, aha das Tourette-System auch, bis Morbus Crohn. Eine ganze Seite voll mit Arztnamen, die heute als Krankheiten weiterleben.
Inzwischen haben wir auch verstanden, daß Monsieur T., der seine Frau mit dem Messer erstechen wollte, der Vater der auktorialen Erzählerin ist, die wir gar nicht gerne mit Autorin Olivia Rosenthal gleichsetzen wollen, uns wehren, wenngleich es einem wahrscheinlich vorkommt; aber wir verlangen den Vorrang, formulieren geradezu eine Verteidigung des Fiktiven, fühlen uns damit wohler. Aber, oh Schreck, das geht der Erzählerin auch so. Jetzt leugnet sie sogar, persönlich etwas mit Monsieur zu tun zu haben. Allerhand. Aber auch das finden wir konsequent. Denn schließlich geht es ja auch bei der Krankheit A. um das Ende aller Verläßlichkeiten, alles was für wahr und konstant gehalten wurde, gerät anläßlich von A. ins Rutschen. Und wo einmal das Rutschen in Gang kommt, bleibt nichts mehr aufrecht stehen und fällt um.
Wie man daraus eine Kunst macht, das konnte der Verlag Hoffmann und Campe auf der vorletzten Buchmesse vormachen, wo Patrick Sinner beim Weltrekordversuch in Buch-Domino ausgerechnet sehr viele Exemplare der neuen deutschen Ausgabe des Guinessbuch der Rekorde (Hoca) so stapelte, daß ein kleiner Fingerzeig reichte, um das erste Buch zum Fallen zu bringen, so daß nach vielen Sekunden alle dicken A-4-Bücher umgefallen waren, ästhetisch ein schöner Anblick und ein gutes Beispiel für Kleinigkeiten, die reichen, um alles, aber auch alles zu verändern.
Doch, doch, das hat mehr mit der Krankheit A. zu tun, als es scheint. Natürlich geht es beim Umfallen und Entfallen, Wegfallen und Zufallen um Metaphern, die beide Ereignisse einen. Damit bewegen wir uns in der Richtung der Erzählerin, die uns wohl, uns unbewußt, anleitet.
Übrigens haben wir seit dem vor vielen Jahren unternommenen Lesen von DER MANN, DER SEINE FRAU MIT EINEM HUT VERWECHSELTE von Oliver Sacks (leider 2015 an Krebs gestorben) nie sooft an dessen Patientengeschichten denken müssen, wie beim Lesen über die Krankheit A., weil ähnliche Phänomene auftreten und ähnlich lyrisch darüber geschrieben wird, auch wenn die Ursachen völlig unterschiedlich sind. Es gilt: „Nie hättest Du gedacht, dass die geistige Verwirrung deines Vaters dich so durcheinander bringen, so peinlich berühren, dir so gefallen könnte.“(73)
Genug der Abweichungen, zurück zur Erzählerin, ist sie nun die Tochter oder nicht. Dramatisch, wenn einen der Vater mit der eigenen Mutter verwechselt und sich auch so verhält. Andererseits kennt man das von sehr alten Menschen, die sozusagen natürlich dement werden, daß sie die am Krankenbett Anwesenden verwechseln, vorwiegend die eigene Jugend beschwören und in den Kindern und Kindeskindern die Geschwister sehen. Aber diese im Alter Verwirrten liegen im Bett, was bei Alzheimer Patienten nicht zwangsläufig sein muß. Und auf einmal spricht die Icherzählerinl als Ehefrau. Hier schwimmt so manches.
Fortsetzung folgt durch weitere Kollegen
Bisherige Artikel der Serie:
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11534-zum-alzheimer-tag-der-auguste-d-am-25-november
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11533-wir-sind-nicht-da-um-zu-verschwinden
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/11535-die-krankheit-a
Fotos:
Titel: Alois Alzheimer © klinikum-uni.muenchen.de
Text: Patrick Sinner (links) und sein Team posieren auf der Buchmesse im Anschluss an ihren geglückten Weltrekord-Versuch im Buch-Domino © hoca.de
Info:
Es war 2015, als wir mit offenem Mund zuschauten, wie man in Sekunden den Boden verliert und etwas umfällt, was aufzubauen viel Arbeit gekostet hatte. Jener Weltrekordler, Patrick Sinner hatte berichtet, er habe mit zwölf Mitarbeitern zwölf Stunden lang ("Wir haben um 17 Uhr angefangen und waren um halb fünf fertig") die 10 200 Bücher des laufenden ‚Guinness World Records‘ auf Deutsch als Buchschlange aufgebaut, was dann in einer Minute ordentlich in eine Richtung umfiel. – siehe Bild. Wir waren dabei, als direkt danach die Weltrekordurkunde übergeben wurde und erinnern uns, daß der bisherige Weltrekord bei 9 862 Büchern lag. WAs uns gefiel, war die Idee, mit dem Weltrekordbuch den Weltrekord zu unternehmen, der dann in der nächsten Auflage des Weltrekordes dort aufgenommen ist. Ob auch der 15er Weltrekord inzwischen außer Kraft ist, wissen wir nicht.
Olivia Rosenthal, Wir sind nicht da, um zu verschwinden
Aus dem Französischen von Birgit Leib
180 Seiten, Hardcover
Ulrike Heimer Verlag
Erschienen August 2017
ISBN 973 3 897414 02 0
Ladenpreis 20,00 Euro
Rudolf Dederer, Frankfurt am Main, 25. November 1901 Vormittags 10 1/2 UHR. Was ist mit Auguste D., biographische Erzählung, Broschüre