K loschenWIR SIND NICHT DA UM ZU VERSCHWINDEN von Olivia Rosenthal im Ulrike Helmer Verlag, Teil 4

Klaus Hagert

Hamburg (Weltexpresso) - Und dann gibt es im Buchverlauf eine neue Ebene, die Deutsche besonders interessiert, denn es geht um die Herkunft der Verfasserin – also doch in Personalunion auktoriale Erzählerin? - aus Deutschland, was man dem Namen anmerkt und auch, daß diese Namen oft jüdischen Ursprungs sind.

In Frankfurt am Main ist der jetzt A.kranke Vater geboren, da wo Alzheimer wirkte und da, wo seine Patientin Auguste D. ungewollt für immer ihre Krankheit mit seinem Namen verbunden hat. Nur als Krankheit hat dieser Familienname Alzheimer überlebt, denn Rosenthal hat nachgeforscht: die Töchter haben die Namen der Männer übernommen und der Sohn hatte keine Söhne. „Die einzigen, die den Namen des berühmten Arztes tragen, sind die Kranken. Eingeweihte nennen sie die Alzheimers.“ (101)

„Zu der Zeit, als Alzheimer in Frankfurt wohnte, war die Stadt noch nicht vom Krieg zerstört. Die Altstadt und die Anordnung der Straßen mussten ungefähr die gleichen sein, wie sie meine Vorfahren vorfanden, als sie sich dort niederließen.“ Da muß man als Einheimischer schon schmunzeln, schließlich ging Alzheimer bereits 1902 weg aus Frankfurt. Er kehrte als Toter , verstorben an überraschendem Nierenversagens 1915 aus Breslau zurück und liegt zusammen mit seiner Frau auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Die, übrigens vielgeliebt, war in jenem Frühjahr 1901 gestorben, als Auguste D. im November in Alzheimers Klinik kam. Das war demnach alles weit vor dem Ersten Weltkrieg, in dem Frankfurt auch nicht zerstört wurde. Das bewirkten hauptsächlich die Luftangriffe im März 1944, die die gesamte Altstadt auslöschten.

Und während man lesend sich im Diesseits und in der Geschichte befindet, unterläuft die Autorin die Gefaßtheit und verführt einen zu Experimenten, wie man die Krankheit A. nicht als Krankheit begreift, sondern ihre Phänomene selbst in die Hand nimmt, indem dem Leser vorgeschlagen wird, eine Person des eigenen Umfeldes selbsttätig aus dem Gedächtnis zu löschen und damit all die Ereignisse, die mit dieser Person zusammenhängen, ungeschehen sein zu lassen. Der Leser soll also das, was die Krankheit A. gegen den Willen des Kranken tut, das absolute Vergessen, selber in Gang setzen, mit vollem Bewußtsein und vor allem in voller Entscheidungsfreiheit, wen es erwischen soll, den wir für uns als nicht existent, als gelöscht erklären. Und nicht nur die Krankheit A. verfährt so, das ist auch das normale Verfahren, wenn man am Rechner auf die Löschtaste drückt, hoffentlich mit Absicht und nicht auf Versehen die eigene Schreibfrucht vernichtend.

Was will die Autorin damit erreichen? Sie schreibt es nicht, aber wir wissen es auch so. Denn, wenn man sich überlegt, welchen Menschen man wegen welcher Taten aus seinem Leben löschen wollte, dann merkt man, daß wir Menschen einen solchen Vorgang eben nicht willkürlich herbeiführen können, führt doch jeder Versuch, wie dieser Vorschlag der Autorin, eine bestimmte Person und die mit ihr verbundenen Ereignisse aus dem Gedächtnis zu eliminieren zum reziprok umgekehrten Ergebnis: die Erinnerung an diese Person X wird noch fester eingeschrieben. Wir sehen mal ab von den Lebenskünstlern, die tatsächlich solche Verdrängungsleistungen – meist unbewußt, aber zwanghaft - schaffen. Aber die Frage selbst, wen und was man löschen möchte, die ist schon gut.

Die Autorin jedoch geht auf ihren eigenen Vorschlag nicht weiter ein, kehrt aber stattdessen zurück zur Familiengeschichte: „Mein Urgroßvater hatte ein Lederwarengeschäft im Zentrum von Frankfurt.“ (124) Anlaß der Erinnerungen ist eine Fotografie aus Frankfurt als Brücke zur familiären Erinnerung. Und kaum ist die Icherzählerin da eingetaucht, kommen buchstäblich die Leichen der familiären Vergangenheit ins Spiel: „Ich frage mich, wie mein Leben geworden wäre wenn meine Schwester ihrem Leben nicht ein Ende gesetzt hätte.“ (126) „...sich nicht aus dem Fenster gestürzt hätte. (135) Das ist als Information neu. Verwirrend, daß es ein paar Seiten weiter auf einmal noch eine Schwester gibt, also insgesamt drei Töchter.

Das Verwirrspiel setzt sich fort. Aus der Erzählerin, der einen Tochter des Monsieur T. wird unvermittelt die Ehefrau, die er aber nach fünfzehn Jahre Ehe 1971 verläßt und damit auch die drei Töchter, oder rührt die dritte, fragt sich der aufmerksam Leser vielleicht aus der nächsten Ehe, denn der Vater sprach ausdrücklich davon, eine neue Familie gründen zu wollen. Aus der einen Familie ausziehen, um noch einmal das Gleiche zu machen? Eine alltägliche Geschichte, aber nicht jeden überfällt die Krankheit A.

Und wer behält ihn nun im Haus? Die Tochter, die erste Ehefrau, und welche hat er niedergestochen? So viele Frauen um einen Mann? Und der bekommt Alzheimer?! Auf jeden Fall hat er seine erste Frau nie wiedergesehen, also hat er die zweite mit dem Messer und in Todesabsicht angegriffen. Und die drei Töchter sind alle aus der ersten Ehe. Inzwischen liest man die Angaben schon wie die eigene Familiengeschichte. Der Autorin ist es – von dem Leser unbemerkt – gelungen, sich in die eigene Person einzuschleichen und ihre familiären Problem zu eigenen zu machen – oder liegt in jeder Familie der Kern einer abspaltenden Möglichkeit?

Die zweite Ehefrau hielt auf jeden Fall den Gedächtnisschwund des Ehemann für eine normale Alterserscheinung und richtete das gesamte Haus auf seine fehlenden Gedächtnisleistungen aus, wie z.B. automatisch abschaltende Wasserhähne oder Laufmarkierungen auf dem Boden und vieles andere, was einem als Hilfe einleuchtet, aber viel Arbeit macht. Daß der mit der Krankheit A. Geschlagene auch vergißt, wie die Liebe zwischen zwei Menschen geht, wie man also miteinander schläft, das ist krass. Keine Ahnung, ob das stimmt, auch keine Ahnung, ob die Frau ihm dabei nicht hilft, wie es die Autorin über ihre Stiefmutter schreibt, aber inzwischen fresse ich der Autorin aus der Hand und bezweifle nichts, was im Buche steht.

Und wenn es auf Seite 190 heißt:

„es ist kompliziert
ein Mann zu sein.“

folgt auf Seite 191

„Monsieur T.s Leben kann nicht vollständig erzählt werden. Seine Aussage fehlt.“
Schließlich hat er die Krankheit A.
Schluß.

Die Danksagung hätte ich vorher lesen sollen. So manche Fragen hätte man sich beim Lesen nicht stellen müssen. Das nur als Tip für die, die hoffentlich dieses originelle berührende Buch erwerben. Daß es ins Deutsche übersetzt wurde, ist Ausfluß des Förderprogramms, das zur diesjährigen Buchmesse FRANKFURT AUF FRANZÖSISCH vom Institut français möglich gemacht wurde.


Eine FORTSETZUNG  dieser Buchbesprechung, die auf Psychosomatisches setzt und erklärt, was mit der verwirrenden Sexualität der A.Kranken los ist, ist nötig, aber nicht durch mich.


Foto: © praxisvita.de

Info:
Olivia Rosenthal, Wir sind nicht da, um zu verschwinden
Aus dem Französischen von Birgit Leib
180 Seiten, Hardcover
Ulrike Heimer Verlag
Erschienen August 2017
ISBN 973 3 897414 02 0
Ladenpreis 20,00 Euro

Rudolf Dederer, Frankfurt am Main, 25. November 1901 Vormittags 10 1/2 UHR. Was ist mit Auguste D., biographische Erzählung, Broschüre