Bildschirmfoto 2018 02 09 um 06.57.31Mary Shelleys „Frankenstein - oder der moderne Prometheus“. Der Hintergrund, Teil 2/4

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Den Sommer 1816 verbrachte Shelly mit Lord Byron, ihrem Ehemann und anderen in einer Villa am Genfer See. Aufgrund des düsteren Wetters beschloss die Runde, dass sich alle einen Schauerroman ausdenken sollten. Dazu schrieb die Autorin über einen Traum, den sie dort plötzlich hatte: „Ich sah das abscheuliche Phantom eines Mannes ausgestreckt daliegen und plötzlich mit Hilfe einer gewaltigen Maschine Lebenszeichen von sich geben...

Entsetzt öffnete ich die Augen. Die Vorstellung nahm mich so gefangen, dass mich ein Angstschauer überlief. Ich konnte das Bild meines abscheulichen Phantoms nicht so schnell loswerden, es verfolgte mich weiter. Ich musste versuchen an etwas anderes zu denken. Ich kehrte zu meiner Gespenstergeschichte zurück. Blitzschnell und erlösend kam mir die Erleuchtung. Ich habe sie ja gefunden! Was mich entsetzt hat wird auch andere entsetzen, und ich brauche nur die Erscheinung zu beschreiben, die meine nächtliche Ruhe gestört hatte.

Am nächsten Morgen verkündete ich, dass ich mir meine Geschichte ausgedacht hätte. Ich begann noch am selben Tag mit den Worten ‚In einer trüben Novembernacht...’ und brauchte nur die düsteren Schrecken meines Wachtraums zu Papier zu bringen“.

Auch wenn Mary Shelleys abscheuliches Phantom im nächtlichen Wettbewerb des gruseligen Erzählens entstand und ursprünglich nur mit einigen Seiten geschildert werden sollte, arbeitete sie noch weitere zwei Jahre an „Frankenstein oder der moderne Prometheus“. Es gelang ihr ein komplexer und vielschichtiger Roman, der schon im Untertitel deutlich macht, dass es ihr letztlich um mehr ging, als nur darum eine Horrorgeschichte zu erzählen.

Erzähltechnisch spinnt sie ein Gewebe ineinander verschachtelter Darstellungsebenen mit zahlreichen Zeitsprüngen und Rückblenden sowie unterschiedlichen Perspektiven auf dieselben Ereignisse: Polarforscher Walton beschreibt auf der ersten Erzählebene in Briefen an seine Schwester die eigene, überaus gefährliche und vom Scheitern bedrohte Expedition in die Arktis, bei der er den erschöpften Frankenstein trifft. Dieser wiederum berichtet Walton seine Lebensgeschichte und von seinem gescheiterten Experiment, ein vollkommenes und glückliches Menschengeschlecht zu schaffen. Auf der dritten Erzählebene schließlich schildert das Geschöpf seinem Schöpfer die eigene Leidensgeschichte, die Frankenstein, eingewoben in seine Geschichte, wiederum Walton mitteilt, die dieser in Briefen für seine Schwester beschreibt...

Frankenstein ist kein perverser Arzt, wie die krankhafte, in sich zerrissene Romanfigur Stevensons „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“ oder die böse, macht- und geldgierige Fantasiegestalt „Dr. Mabuse“. Er setzt sich nicht selbstsüchtig über Gesetze und gesellschaftliche Moral hinweg, im Gegenteil, hochbegabt und ehrgeizig will er, wie Goethes Faust, „ein aus der Masse aufragendes, keine Grenze anerkennendes Genie“ „die Geheimnisse der Natur enträtseln“. Später bereut er sein rein naturwissenschaftliches, nur von der Möglichkeit des Machbaren getragenes Handeln und erkennt, dass er zwar der Menschheit dienen und sie beglücken wollte, aber dass genau diese Neuerungssucht zu Leid und Verbrechen führte; er muss sein Scheitern eingestehen! Der Roman Shelleys wirft unter anderem die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers und der Antizipation seines Tuns auf. Frankenstein ‚vergisst’, dass sein Wesen Selbstbewusstsein und Gefühle haben könnte. Ihn interessiert nur das engineering, der Prozess des Konstruierens, nicht aber der konkrete Körper! Für die Folgen seines Handelns steht er verantwortlich erst nach langen, schmerzhaften eigenen Erfahrungen ein.

Historische Vorbilder gab es für die Frankenstein-Figur nicht, denn es ist unwahrscheinlich, dass Shelley die Burg Frankenstein bei Darmstadt überhaupt gekannt hat. Vor allem aber verbindet sich weder mit diesem Ort noch mit dem Namen Frankenstein irgendein überlieferter Schrecken. Erst amerikanische Haloweenfans okkupieren die Burg seit den 70er Jahren für sich.

Shelley greift aktuelle Themen aus dem Kreis ihrer Freunde auf, schöpft aus leidenschaftlich diskutierten wissenschaftlichen Fragen zu Dr. Darwins Experimenten und Galvanismus, Wesen und Ursprung des Lebens. Sie schafft kein Horrorszenario durch böse Geister, bluttriefende Unholde, klirrende Ketten wie im damaligen Schauerroman üblich. Das Unheimliche ist eher subtil, bekommt seine Kraft und düstere Stimmung aus dem Realismus der Naturschilderungen und der Einsamkeit der auf sich geworfenen, getriebenen Protagonisten: Dem Arktisforscher Walton, dem Wissenschaftler Frankenstein und dem namenlosen künstlichen Wesen. Nur unmerkliche gleitet das Wahrscheinliche, das Realistische zum Unwahrscheinlichen, zum Phantastischen über. Shelley spinnt realistisch aus, was möglich wäre, „Vielleicht könnte man auch eine Leiche wieder zum Leben erwecken?“ und ihr Werk wird so zum Vorläufer des Science-Fiction-Genres.

Als Entwicklungsroman macht das Buch kenntnisreich und psychologisch überaus einfühlsam die negative Entwicklung eines offenen, Lernen wollenden, sensiblen Wesens in einer feindlichen Umwelt deutlich und zeigt, wie „das Böse“ erst in die Menschen kommt. Vom Vater Godwin beeinflusst, greift sie dessen aufklärerische Überzeugungen auf. Im Zeitalter des Umbruchs in England mit beginnender Industrialisierung, dem Massenelend und der politischen Reaktion nach der Französischen Revolution, glaubt sie immer noch an die Möglichkeit der Veredelung des Menschen im Sinne Rousseaus.

FORTSETZUNG FOLGT

Foto:
© Cover

Info:
Cover einer englischen Ausgabe (Ausschnitt). Hier ist das Eigentümliche, daß das Monstrum Frankenstein mit einem anderen Bild vermischt wird, das vielleicht für die Englänger typisch deutsch, typisch mitteleuropäisch, typisch versponnen wirkt: ein Gemälde von Caspar David Friedrichs: Der Wanderer über dem Nebelmeer!

Das Originalbuch Mary Shelleys „Frankenstein - oder der moderne Prometheus“
erschien in mehreren Ausgaben, etwa bei Reclam oder im Insel-Verlag

Podcast

Die 5-stündige Lesung in der Bibliothek Stuttgart lässt sich kostenlos als mp3-Hörbuch unter http://www.stuttgart.de/stadtbuecherei/druck/audio/literatur/frankenstein_audio.htm

herunterladen

Rudolf Drux (Hrsg.) „Der Frankenstein-Komplex“, Suhrkamp-Verlag - Dokumentation zum gleichnamigen Symposion in Weimar 1999
Karin Priester, Mary Shelley - die Frau, die Frankenstein erfand (Biografie), Blanvalet-Verlag