Nora Amin, Weiblichkeit im Aufbruch, Matthes & Seitz
Thomas Adamczak
Otzberg/Odenwald (Weltexpresso) - Es gibt weniger wichtige und wichtige Neuerscheinungen. Dieser schmale Band mit dem prägnanten Titel »Weiblichkeit im Aufbruch« der ägyptischen Schriftstellerin, Theaterregisseurin und Choreografin Nora Amin ist eine wichtige Neuerscheinung auf den Büchermarkt. Warum?
Nora Amin beschreibt ausgehend von der »ewige(n) Faszination des Frauenkörpers« die Auswirkungen auf das Körpererleben der Frauen vor allem, aber nicht nur in der arabischen Welt.
Während sie im Sommer 2015 durch Kairo geht, begleitet sie ihr Geschlecht, und ihr Geschlecht begleitet sie. Sobald sie das Haus verlässt, nicht mehr allein, sondern mit anderen zusammen ist, reagiert ihr Körper. Der Körper passt sich der jeweiligen Umgebung an, reagiert auf diese mit unterschiedlichen Empfindungen. Gefühle des »Behagens, Wohlbefindens« bis hin zu »Gereiztheit, Unruhe« werden wahrgenommen, was Auswirkungen auf die Bewegungsweisen und das Verhalten hat. Die Bewegungsweise ist für die Autorin u.a. abhängig von der allgemein öffentlichen Stimmung. Deutlich macht sie das durch den Hinweis auf die Stimmung auf Kairos und Berlins Straßen. Die Unterschiedlichkeit der Stimmung in diesen beiden Städten präge die Körperlichkeit und durchdringe die Bewegungen. Hier hätte man sich einige Konkretisierungen gewünscht.
Aber Nora Amin geht es in diesem Essay ja vor allem um die revolutionären Erfahrungen auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Anhand ihrer eigenen Erinnerungen an die Ereignisse während der »ägyptischen Revolution« verdeutlicht sie die körperbetonte Seinserfahrung der beteiligten Frauen und Männer.
Januar 2011. »Alle Ägypter fordern ihre Menschenwürde zurück. Es ist ein Marsch hin zu einer neuen ägyptischen Identität. Ein Marsch zur Wiederaneignung unseres Landes. Ägypten soll nicht länger dem Regime oder der Regierung gehören. Es soll unser sein. Wir wollen die Straße übernehmen, uns die öffentlichen Plätze wieder aneignen.« Sie entdeckt auf dem Tahrir-Platz ihre kindliche Freude wieder.
»Die lächelnden Gesichter der Frauen verraten mir, dass wir auf unsere Menschenwürde zumarschieren. Wir bewegen uns frei und selbstbewusst, sind nicht länger unterlegen oder eingeschüchtert.« Die bisherige Geschlechterpolitik und Erfahrungen der Missachtung und Entehrung der Frauen scheinen weit entfernt. »Und all das geschah innerhalb von 18 Tagen. Wir verloren unsere Angst. Wir erlangten unsere Menschenwürde zurück. Wir waren im Begriff, Geschichte zu schreiben.«
Nora Amin schildert mit leidenschaftlichen Worten die Frauen und Männer gleichermaßen erfassende revolutionäre Euphorie. Frauen entdeckten und erfuhren »ihre Gleichheit und Gefährtenschaft«. Die eigene Würde kam in diesem revolutionären Moment zu ihrem lang ersehnten Recht. »Die Frauen werden nicht länger ins Haus gehören. Sie haben den öffentlichen Raum, ihr Land übernommen.« Das war die Hoffnung. Danach folgte zunächst die Zurückdrängung der emanzipatorischen Bewegung und anschließend, wie bei eigentlich allen Revolutionen vorher, die ernüchternde »postrevolutionäre Depression« (Bini Adamczak).
In dem Kapitel »Der Frauenkörper als Raum« schildert die Autorin die Gruppenvergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz im November 2012 als einen »vulkanartigen Ausbruch schieren Wahnsinns, in dem die entfesselte Energie sich verbrüdernder Männer alle Grenzen sprengt«.
Für Amin sind die Massenvergewaltigungen, die sich Monate später zweimal wiederholten, politischer Natur. Weil sie auf dem Tahrir-Platz stattfanden, diesem politischen Symbol der Revolution, sei der Platz selbst und mit ihm die friedliche Revolution und ganz Ägypten vergewaltigt worden. Verletzt wurde die Würde der Nation, die sich 2011 in gewaltigen Menschenmengen auf dem Tahrir-Platz versammelt hatten, »um Freiheit, Gerechtigkeit und Würde zu fordern.« Nun aber war der Tahrir-Platz zu einem Ort geworden, an dem die Würde dieser Menschenmenge in unfassbarer Weise verletzt wurde.
An verschiedenen Stellen des Essays finden sich Erklärungsversuche. Sie sei in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der »häusliche Gewalt« zum Familienalltag gehörte. Die Lehrer schlugen die Schüler regelmäßig. »Wir sollten uns ständig fürchten.« Ein Nachbar schlug seine Frau fast täglich, und zwar vor den Kindern, vier Mädchen. Der Ehemann und Vater, schreibt sie, »war zur Misshandlung berechtigt«. Viele Frauen wurden Opfer häuslicher Gewalt. Nora Amin benutzt die Vergangenheitsform. Sie geht nicht darauf ein, ob und inwiefern eine solche Gewalttätigkeit in Familie und Schule mittlerweile noch die Gegenwart prägt.
Sie ist neun Jahre alt, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer sexuellen Belästigung konfrontiert wird. Sie nimmt Ballettunterricht, geht gern »aufrecht und graziös«. Sie blickt nicht auf ihre Füße, was für die normale arabische Frau in der Öffentlichkeit eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint. Sie geht selbstbewusst, spürt plötzlich, dass sie beobachtet wird, dass ihr Blicke folgen. Sie erfährt am eigenen Körper diese »ewige Faszination des Frauenkörpers«.
Was macht es mit einem Mädchen, einer Frau, mit ihrem Körpergefühl, wenn sie sich dessen bewusst wird, dass sie andere, bevorzugt Männer, aber nicht nur Männer, durch ihr Sosein fasziniert? Darauf geht die Autorin nicht ein, sondern darauf, dass ein Mann in einer Wäscherei, der dort Kleider bügelte, ihren Körper durchbohrte, mit seinen Blicken penetrierte. Diese Erfahrung verwandelte sie von einem Kind in eine Frau. »Eine ängstliche Frau.«
Dem grenzüberschreitenden, ja grenzverletzenden, auf alle Fälle übergriffigen Blick hätte der Blick einer Person gegenübergestellt werden können, welche die freudige und selbstbewusste Körpererfahrung des Kindes mit Sympathie und bejahendem Lächeln begleitet. Am Beispiel dieser konträren Blicke ließe sich augenfällig verdeutlichen, wohin »Weiblichkeit im Aufbruch« letztlich führen muss.
Die weibliche Bevölkerung Ägyptens ist seit fünfunddreißig Jahren zunehmender sexualisierter Belästigung ausgesetzt. Statistiken belegen, dass die Mehrzahl der ägyptischen Frauen täglich, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegt, mit sexualisierter Gewalt konfrontiert wird. Das Phänomen sei, schreibt die Autorin, »vergleichsweise neu«, habe sich aber in den letzten Jahren rasant ausgebreitet. Weiblichkeit sei in Ägypten zu einer »Quelle des Unbehagens, der Scham« geworden. Das Fazit der Autorin: mindestens die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung habe wegen der sexuellen Aggressionen gegen Frauen und Mädchen ein bleibendes, kollektives Trauma.
Nora Amin ist die Gründerin des »Landesweiten ägyptischen Projekts für ein Theater der Unterdrückten« und des damit verbundenen arabischen Netzwerks. Sie ist Autorin eines arabischen Buches über Storrytelling zur Überwindung von Traumata. Sie hat in ganz Ägypten Theatergruppen ins Leben gerufen, mit denen sie versucht, den öffentlichen Raum künstlerisch zu besetzen, um der Mentalität der Unterdrückung eine veränderte Denkweise und ein anderes Wertesystem entgegenzusetzen.
In Rio de Janeiro hat sie eine Ausbildung bei Augusto Boal gemacht. Dessen theaterpädagogischer Konzeption fühlt sie sich verpflichtet. Zurzeit ist sie Gastprofessorin für Tanz und Theater an der FU Berlin mit dem Schwerpunkt Darstellung von Traumata.
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