a Fluegge Manfred buchmarktVor 80 Jahren: Der ANSCHLUSS Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938, Teil 4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nein, Manfred Flügge bringt keine neuen Tatbestände ans Licht, was den Anschluß angeht und auch nichts wirklich Neues zur Stadt Wien. Aber, er bringt neben einer lebendigen und korrekten Darstellung der Ereignisse, die den Anschluß begleiten und dem Daniedergehen Österreichs als deutsche Ostmark, noch einmal das vergangene Wien zum Leuchten, schon allein dadurch, daß er beschreibt, wie es war und was spätestens mit dem Anschluß verloren ging:

die Vielfalt von Leben, Denken, Fühlen, Sein. Eine kosmopolitische Stadt der Künste, der Kultur einerseits, die vertrauten Gassen, die Heimat andererseits. Denn was heute als Ziel jeder Urbanisierung gilt: global und regional zu sein, war Wien schon immer. Nur nicht seit den Dreißiger Jahren und dem Anschluß und den Folgen. Aber nach dem Krieg und erst recht nach der Souveränität Österreichs im Staatsvertrag mit den Siegermächten am 15. Mai 1955 hat Wien seine urbanen Vorzüge, die in den Zwanziger Jahren durch die fortschrittliche Bautätigkeit des Neuen Wien ausgebaut wurden, nicht nur wiedererlangt, sondern in den letzten Jahrzehnten systematisch ausgebaut. Nicht umsonst führt Wien seit Jahren im Städteranking über die Wohnlichkeit der Großstädte die Liste derer mit der höchsten Lebensqualität an. Zu den vielen Erfordernissen gehören auch die Natur und die kulturellen Angebote, mit denen Wien besonders punkten kann.

Daß dies historisch ebenso war, wird einem beim Lesen bewußt. So bleibt beispielsweise Sigmund Freud für Flügge eine Richtschnur, an der entlang er die Nazitaten auch psychoanalytisch deutet, selbst wenn er dann solchen Nebenkriegsschauplätzen etwas viel Raum gibt, wie, wenn er Freuds Brief an seinen Sohn Ernst zitiert, der schon in London weilt und alles für die Ausreise vorbereiten wird: „Denk‘ Dir nur auf unserem herrlichen Obersalzberg, wo Du mit soviel Glück Herrenpilze gesucht hast.“(S. 11) Es geht um das Treffen Schuschniggs mit Hitler im Februar 1938 in Berchtesgaden, wo Hitler sich seit 1925 regelmäßig aufhielt und den Obersalzberg residenzähnlich ausbauen ließ, wo Sigmund Freud aber schon seit 1899 gerne hinfuhr. Ach so und die Herrenpilze sind Steinpilze, die Königsklasse der Pilze.

Andererseits ist das Buch eben eine spannende Recherchesammlung, wenn uns der Autor mitteilt, was mit dem Eigner des Hotels Imperial passierte, das nobelste Haus am Platz, in dem Hitler nach dem Einmarsch an der Ringstraße residierte. „Dessen jüdischer Besitzer Samuel Schallinger wurde im März 1938 enteignet und vier Jahre später im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet.“ (S. 10) Und was mit Schuschnigg geschah, von dem offiziell behauptet wurde, er sei ausgereist, stattdessen aber sieben Jahre in Haft bleiben mußte, war mir dessen Leben nach 1945 völlig unbekannt.

Sehr bekannt dagegen das, was Flügge unter WIEN BLEIBT über das Wien nach 1900 zusammenträgt, mit Paris vergleicht, nicht mit Berlin, was in den 20er Jahren ja naheläge, aber wir wollen hier nicht kritisieren, da auch das Zusammentragen aller jüdischen Aspekte in Wien, ihrer Bewohner, der von ihnen befeuerten Kultur einfach gelungen ist, denn an Einzelbeispielen wie dem Mord an Hugo Bettauer im März 1925 durch einen österreichischen Nazi, scheint Gesinnung und Klima der Zeit exemplarisch auf. Und der Mörder, nein, seinen Namen nennen wir jetzt mit Absicht nicht, kam gerade mal eineinhalb Jahre in die Psychiatrie „und lebte noch lange und unbehelligt in Deutschland, wo er sich nach 1945 im Kampf gegen Schund in Literatur und Presse hervortat.“(Seite 30)

Die Spanne, die Flügge ausbreitet, daß er die Stadt Wien als lebendigen Organismus begreift und schildert, uns vermittelt, woher alles kam, was geschah und wohin es geht, hat etwas mitreißend Organisches, denn nicht nur für Menschen gilt, daß wir wissen müssen, woher wir kommen, wenn wir wissen wollen, wohin wir gehen. Das gilt auch für Städte und für Länder.

Wir erleben Schurken, wir lesen von Verbrechern und von der geplanten und bürokratisch durchgeführten Vernichtung von Menschen - rund 90 Prozent der österreichischen Juden, in Zahlen 300 000,  lebten in Wien - und wir müssen die unendliche Anzahl der Mitläufer konstatieren, ein ganzes Land, ein ganzes Volk von Mitläufern. Da muß es einen nicht wundern, daß sich die Österreicher schon beim Verhandeln zum Staatsvertrag 1955 grundsätzlich als Opfer der Deutschen gerierten. Erst 1991 hatte der SPÖ-Bundeskanzler Franz Vranitzky erstmals von Österreichern als Tätern in der Nazizeit gesprochen, was in der Bevölkerung noch nicht gut ankam, was aber durch die Waldheimaffäre an der Zeit war. Aber jetzt, ganz langsam, kommt auch bei den Österreichern etwas in Bewegung, während gleichzeitig die politisch Verantwortlichen aus einer Ecke kommen, die noch vor ganz kurzem das Völkische hochhielt. Eine sehr seltsame Gemengelage.

Insofern ist Flügges 80 Jahre Jubiläumsbuch natürlich auch ein Buch, das für die gegenwärtige rechte bis rechtsaußen Koalitionsregierung in Österreich Maßstäbe der Einschätzung setzt.


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Info:
Manfred Flügge, Stadt ohne Seele. Wien 1938, 479 Seiten, Aufbau Verlag 2018

Haruki Murakami, Die Ermordung des Commendatore I Eine Idee erscheint, ungekürzte Lesung, 11 CDs, 781 Minuten, gelesen von David Nathan, Hörbuch Hamburg
Japanische Originalausgabe als Roman erschienen 2017, deutsche Übersetzung im Verlag DuMont Buchverlag