Vor 80 Jahren: Der ANSCHLUSS Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938, Teil 3
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Da zitieren wir uns doch einmal selbst: Natürlich ist beim Thema Anschluß sehr viel wichtiger, das imposante Buch STADT OHNE SEELE. WIEN 1938 von Manfred Flügge, in die Hand zu nehmen, bei Aufbau erschienen, das wir nicht Sachbuch nennen möchten, da auch mit Gefühl, Herz, ja und eben Seele niedergeschrieben.
Und wir hatten eine Besprechung zugesichert, die leider leider nur sehr summarisch ausfallen kann, denn das Buch steckt so voller Wienbezüge, die alle wichtig sind und in uns die Sucht nach ‚Mehr‘ auslöste, daß man die nächsten Wochen die Themen abarbeiten möchte. Denn in der Tat bringt Manfred Flügge erst einmal eine Beschreibung von Wien als STADT MIT SEELE, von der sich dann der Anschluß und die Folgen negativ absetzen.
Wien, jahrhundertelang als Sitz des Herrschers über das Heilige Römische Reich deutscher Nation, wie sich das mittelalterliche Kaisertum ab dem späten 15. Jahrhundert selbst nannte – immerhin bestand es seit seiner offiziellen Konstituierung im Jahre 962 bis zu seiner Auflösung 1806 ganze 844 Jahre, sechs Monate und vier Tage - und mit der Bezeichnung ‚deutsch‘ zwar sein Herrscherhaus und die führende Entourage richtig traf, nicht aber die Bewohner des Staatsgebietes, das sich nach dem Ende des Reiches 1806 insbesondere im Folgereich Österreich-Ungarn ausgesprochen multi-national und multi-kulti präsentierte.
Die heutigen Ängste in Mitteleuropa vor Einwanderern, Flüchtlingen, Fremden aus aller Welt sind lächerlich, wenn man sich das ältere Mitteleuropa anschaut, das gerade aus Völkergemischen entstanden war. Aber Geschichte und das Wissen um sie ist leider selten ein Lehrmeister für Leute, die Angst um ihre Privilegien haben, und sie als politisches Mittel einsetzen weshalb dies Kompendium von Manfred Flügge wohl leider nur auf die trifft, die einerseits weltoffen und andererseits dieser Melange Wien nachtrauern, eine Stadt, die im Nachhinein ein eigener Kontinent war.
Ja, wir finden es wunderbar und zutreffend, daß im ersten Kapitel ANSCHLUSS, AUSSCHLUSS, ABSCHLUSS der erste Satz lautet: „Sigmund Freud verließ Wien am Samstag, dem 4. Juni 1938. Das goldene Wiener Herz hatte jeden Glanz verloren, als der Vater der modernen Seelenkunde den Weg ins Exil antrat.“ Er konnte noch würdig mit dem Orient-Express unter Mitnahme seiner Sammlung antiker Kleinplastiken ins Exil gehen, das ihn nach London führte. Zu wenige waren seit den Märztagen und dem Einmarsch rechtzeitig gegangen – kein Wunder, denn wenn jeder von uns sich fragt, wann er die Koffer gepackt hätte und seine Heimat verlassen hätte, was also passieren müßte, damit man das tut, dann könnten wir Heutigen uns noch mit den jüngsten Erfahrungen des Faschismus herausreden, aber in den Dreißiger Jahren in Österreich, wo nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, der Auflösung des Kaiserreichs, den widersprüchlichen 20er Jahren so viel politisches Durcheinander passiert war und ein Austrofaschismus namens Schuschnigg schon als das größte Übel galt, was auch ein Hitler mit seinen Nationalsozialisten kaum übler gestalten könnte, da waren die Grundlagen der alten Welt so zerstört, daß die allermeisten Menschen die neuen Gefahren nicht ahnen konnten, wo doch eh alles schon in Trümmern lag.
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Info:
Manfred Flügge, Stadt ohne Seele. Wien 1938, 479 Seiten, Aufbau Verlag 2018
Haruki Murakami, Die Ermordung des Commendatore I Eine Idee erscheint, ungekürzte Lesung, 11 CDs, 781 Minuten, gelesen von David Nathan, Hörbuch Hamburg
Japanische Originalausgabe als Roman erschienen 2017, deutsche Übersetzung im Verlag DuMont Buchverlag