Bettina Röhls verquere Sicht auf 1968
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Bettina Röhl, die Tochter von Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl, hat ein neues Buch geschrieben, das vor wenigen Tagen erschienen ist.
Dafür rührt sie kräftig die Werbetrommel; u.a. in der „Frankfurter Rundschau“, die am 7. April ein Interview mit ihr veröffentlichte. In diesem Gespräch analysiert und bewertet sie die 68er Ereignisse aus persönlicher Perspektive. Dieser Versuch muss dort, wo es um Zeitzeugenschaft geht, zwangsläufig zu kurz greifen, denn Bettina Röhl kennt vieles nur aus zweiter Hand. Wenn sie beispielsweise konstatiert: „Protest um jeden Preis, egal wogegen, das war der Paradigmenwechsel von 1968“, erliegt sie dummen Sprüchen, die ihr zugetragen wurden und die von den Bornierten aller Zeiten und aller Schichten zu allem, was nicht in beschränkte Wahrnehmungen passt, artikuliert wurden und werden.
Als die ersten Vorboten der später so genannten 68er Bewegung erkennbar wurden, also ab dem Herbst 1966 (damals wurden beispielsweise im SDS Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ und Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ heftig diskutiert; im November sprach Dutschke vor mehreren Tausend Zuhörern in der Berliner Hasenheide und kritisierte den US-Krieg in Vietnam), war sie vier Jahre alt.
Neben den immer lautstärkeren Protesten der studentischen Jugend gegen den Vietnam-Krieg, der sich vielfach in Straßen-Happenings mit Ho-Tschi-Min-Rufen äußerte, und jenen gegen den national-restaurativen Mief der Adenauer-Ära, der weder mit der Kanzlerschaft Ludwig Erhards (1963 – 1966) noch mit der Großen Koalition (1966 – 1969) unter Kurt Georg Kiesinger endete, war das Frühjahr 1968 auch von einem Ost-West-Thema bestimmt. Denn am 4. Januar hatte das Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ) Alexander Dubček zum Ersten Sekretär gewählt. Der leitete daraufhin den so genannten „Prager Frühling“ ein, also den Versuch, den realen Sozialismus zu liberalisieren und ihm ein menschliches Antlitz zu verschaffen.
Ostern 1968 erreichten die Proteste in der Bundesrepublik gegen den „Muff aus 1000 Jahren“ mit dem Anschlag auf Rudi Dutschke am 11. April ihren Höhepunkt. Bereits kurz vorher hatte die Ermordung des US-Bürgerrechtlers Martin Luther King der einsetzenden „großen Verweigerung“ (Marcuse) eine neue Dimension verschafft. Und immer stärker wurde die Springer-Presse zum Ziel der Proteste. Man warf ihr mit Recht vor, zur Eskalation – vor allem in Westberlin – erheblich beigetragen zu haben. Der in der DDR lebende Liedermacher Wolf Biermann dichtete und sang damals:
„Drei Kugeln auf Rudi Dutschke,
ein blutiges Attentat.
Wir haben genau gesehen,
wer dort geschossen hat...
Kugel Nummer Eins kam
aus Springers Zeitungswald.
Ihr habt dem Mann die Groschen
auch noch dafür bezahlt...“.
Am Rande des von der FDJ inszenierten „Kongress der Arbeiterjugend beider deutscher Staaten und Westberlins“ am 1. und 2. Juni 1968 in Halle-Neustadt, zu dem auch Jusos, SDS-Mitglieder und Ostermarschierer eingeladen worden waren, erinnerte einer der verantwortlichen DDR-Funktionäre, der zum Stab Karl – Eduard von Schnitzlers (des Chefkommentators des DDR-Fernsehens) gehörte, die Vertreter westdeutscher Gruppen daran, dass es beste Kontakte (!) zu Ulrike Meinhof und „Konkret“ gäbe. Meinhof würde in der linken Zeitschrift ausführlich auf die Auseinandersetzung zwischen Prager Reformkommunisten und der Moskauer Partei- und Staatsführung eingehen und den Konflikt geradezurücken versuchen. Die sich neu sammelnde außerparlamentarische Linke in Westdeutschland müsse sich wegen der Entwicklung in der ČSSR keine Sorgen machen. Als der „Prager Frühling“ am 21. August durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts beendet wurde, war das für die Linke in Westdeutschland Anlass zu heftigen Diskussionen. Nicht zuletzt wegen dieser Ereignisse blieb der überwiegende Teil der linken Gruppen unabhängig und sympathisierte weder mit dem real existierenden Sozialismus noch später mit der RAF.
Die Mai-Unruhen in Paris veranlassten Staatspräsident Charles de Gaulle dazu, sich am 28. Mai bei seinem Freund General Massu, dem Oberkommandierenden der französischen Truppen in Deutschland, in Baden-Baden des Rückhalts der Armee zu versichern. Nach seinem Besuch setzte er Neuwahlen an, was einerseits zur Deeskalation der aufgeheizten Situation in Frankreich beitrug, andererseits aber zu einem verstärkten Export des revolutionären Bewusstseins nach Deutschland führte. Dazu gehörte auch Daniel Cohn-Bendit, der wenig später zusammen mit Joschka Fischer und der Frankfurter Hausbesetzter-Szene Schlagzeilen machte.
In diesem Frühjahr und Frühsommer 1968 befand sich Bettina Röhl in ihrem noch nicht vollendeten achten Lebensjahr. Sie scheidet für den Zeitabschnitt zwischen 1966 und 1968 folglich als Zeitzeugin aus. Und auch die anschließende Phase, die bis zum Rücktritt Willy Brandts 1974 markiert werden kann, hat sie als zuletzt 12-jährige Schülerin erlebt.
Bettina Röhl lebt aus zweiter Hand. Sie interpretiert die politischen Strömungen der 50er, 60er und frühen 70er Jahre anhand von subjektiven Eindrücken anderer. Diese anderen aber haben ihr ganz offensichtlich zu wenig erzählt oder selbst Entscheidendes nicht zur Kenntnis genommen. Denn sonst ist es nicht zu entschuldigen, dass sie im FR-Gespräch äußert: „Es gab keine faschistische Gesellschaft, gegen die die 68er ankämpften mussten.“
Nichts erzählt hat man ihr beispielsweise von der von Alt-Nazis durchsetzten Adenauer Regierung (Hans Globke, Theodor Oberländer) und von den Wendehälsen in der Justiz (Verfassungsrichter Theodor Maunz). Auch nichts von der Hetzjagd auf den FDJ-Funktionär Philipp Müller im Mai 1952 in Essen, bei der dieser getötet wurde. Ebenso nichts vom KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das auf Druck der Regierung Adenauer gefällt wurde, um den linken Widerstand gegen die Wiederbewaffnung zum Schweigen zu bringen. Anscheinend auch nichts von der SPIEGEL-Affäre 1962 oder von einem Bundeskanzler namens Kurt Georg Kiesinger, der seine NS-Vergangenheit nicht leugnen konnte.
Ebenso hätte das 1966 vieldiskutierte Buch des Philosophen Karl Jaspers („Wohin treibt die Bundesrepublik?“) ihren Gewährsleuten eigentlich auffallen müssen; denn er stellte das demokratische Bewusstsein der Bundesrepublik infrage. Die Liste der unerwähnten und unbewerteten Vorgänge ließe sich noch seitenlang fortsetzen. Sie alle haben Anteil an der Entwicklung, die zu "68" führte und die wahrlich keine Salon-Revolution war.
Foto:
Cover Bettina Röhl: „Die RAF hat euch lieb“
© Heyne Verlag
Info:
Bettina Röhl
„Die RAF hat euch lieb“
640 Seiten, Hardcover
Ladenpreis 24,00 Euro
Heyne Verlag
Erschienen am 10.04.2018
ISBN 9783453201507