c kolymaWaram Schalamow, Über die Kolyma, Erinnerungen; Matthes & Seitz, Teil 1/2

Thomas Adamczak

Otzberg/Odenwald (Weltexpresso) - Schmerzen, Zahnschmerzen! Sie weichen nicht. Also besorge ich mir einen Termin bei meinem Zahnarzt.

Am Ende der Behandlung dienen mir die eigenen Zahnprobleme als Überleitung zu Schmerzen ganz anderer Art, von denen die ich gerade bei Schalamow gelesen habe: Es geht bei ihm um das unsägliche Leid der Gefangenen im sibirischen Konzentrationslager. Das Buch von Schalamow »Über die Kolyma, Erinnerungen« lese ich gerade und habe es mit in das Behandlungszimmer genommen.

Die für mich überraschende Reaktion meines Zahnarztes, der, erfahre ich später, auf der gleichen Schule wie Herta Müller war: die Konzentrationslager der Stalinära wären die eigentlichen Totengräber des Sowjetsystems gewesen. Intellektuelle, die die Gefangenschaft in den Arbeitslagern überlebten, hätten nach Stalins Tod angefangen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Damit sei der Boden bereitet worden für den späteren Zerfall des Staates mit Namen Sowjetunion, der sich als sozialistisch verstand.

Falls diese Hypothese stimmt, hat der Autor Schalamow mindestens einen Sargnagel zum Scheitern des vorgeblich kommunistisch/sozialistischen Experiments im heutigen Russland beigetragen.

Waram Schalamow (1907 - 1982) war insgesamt vierzehn Jahre in Lagern inhaftiert.

Erst die sogenannte »Geheimrede« Nikita Chrustschows über Stalins Verbrechen stellte auf dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU im Februar 1956 die Weichen für die Öffnung der Lager und den Beginn der Rehabilitierungen, drei Jahre nach dem Tod Stalins. Schalamow erfuhr im Sommer 1956 von der Aufhebung der ihn betreffenden Urteile aus den Jahren 1937 und 1943.

Die jahrelange, in seiner unmittelbaren Umgebung beobachtete und erfahrene »Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates« war für Waram Schalamow die Kernfrage seiner Epoche, schreibt Franziska Thun-Hohenstein in ihrem kenntnisreichen Nachwort.

»Leben nach Kolyma hieß für Schalamow Schreiben wider das Vergessen. All seinen Gedichten und Prosawerken ist die Kolyma eingeschrieben.« Schalamow konzentrierte sein literarisches Schaffen nach seiner Entlassung darauf, das »Grauen in den Lagern sprachlich zu fassen«. In den »Erzählungen aus Kolyma« literarisierte er persönliche Schicksale der Lagerinsassen. Dagegen schrieb er in »Über die Kolyma« weitgehend autobiografisch über seine Erfahrungen. Ihm ging es vor allem um Selbsterkenntnis. Er wechselt zwischen Essay, Skizze, erzählerischen Einsprengseln. Sogar der Entwurf eines Roman-Projekts findet sich, wiewohl dieser Autor eigentlich die Erzählform des Roman als überholt ablehnte. Von diesem Roman-Projekt wird an späterer Stelle die Rede sein.

Im Vorspann des Bandes finden sich poetologische Reflexionen über das autobiografische Schreiben. Er beklagt die »Unvollkommenheit des Instruments, das sich Gedächtnis nennt«, und er räsoniert über die Grenzen der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Er konstatiert die Unzulänglichkeit der Sprache, wenn er zum Beispiel darum ringt, dem Leser zu vermitteln, dass im Lager »der seelische Tod vor dem physischen Tod eintritt« und dass der physische Verfall im Konzentrationslager vom geistigen Verfall begleitet und beschleunigt wird.

Wie davon erzählen, fragt er sich, dass die »Schläge des Untersuchungsrichters« jeglichen Intellektuellen-Heroismus in kürzester Zeit austreiben? Wie davon erzählen, »dass das Denken, die Gefühle, die Handlung des Menschen schlicht und brutal sind, seine Psychologie äußerst schlicht und seine Sinne abgestumpft?«

Waram Schalamow scheut nicht davor zurück, die Verbrechen in den Stalinlagern mit den Verbrechen der Nazis zu vergleichen. Sein Fazit: »es findet sich immer Neues, noch Schrecklicheres«. In seinem Bemühen, der Leserin, dem Leser einen realistischen Eindruck vom Lagerleben zu vermitteln, legt er sich sogar auf eine Hierarchie des Grauens fest.

»Das Schrecklichste, Erbarmungsloseste war die Kälte. Denn Arbeitsbefreiung gab es erst ab 55°.« Der Hunger kommt für ihn an zweiter Stelle. Der Hunger habe ihn »in kurzer Frist zerstört«. Als drittes nennt er die abnehmenden Kräfte. Der Arbeitstag beträgt 14 Stunden, für den Schlaf bleiben nur 4 Stunden. »Ich schlafe, ich lehne mich an, wie es kommt, und wo ich stehen bleibe, schlafe ich ein.« In der Rangfolge des Grauens kommen danach die Schläge.

Einen „dochodjaga“, so heißt im GULag ein Mensch, dessen physische Auszehrung ein Stadium erreicht hat, dass er dem Tod näher ist als dem Leben, schlagen alle: die Wachposten, die Arbeitsanweiser, der Brigadier, die kriminellen Mithäftlinge, von Schalamow Ganoven genannt, und selbst der Friseur. Kälte! Hunger! Totale körperliche Erschöpfung! Schläge! Wie darüber schreiben, so dass es einigermaßen vorstellbar ist?

Waram Schalamow erinnert sich »an die Grenzenlosigkeit der Erniedrigungen, und jedes Mal erweist sich, man kann noch tiefer erniedrigen, noch heftiger schlagen«. Dieser Autor kennt, nachdem er endlich freigekommen ist und als unschuldig rehabilitiert wurde, nur noch die Aufgabe, wie schon erwähnt, sich mit all seiner intellektuellen Kraft und seinen literarischen Fähigkeiten »dem staatlich verordneten Vergessen« in der Sowjetunion entgegenzustellen und die Erinnerung an das Geschehen im GULag wachzuhalten.

Waram Schalamow war wegen »konterrevolutionärer trotzkisticher Tätigkeit« zur Haft in einem »Arbeitsbesserungslager« verurteilt worden, mit dem Vermerk »zur Verwendung bei physisch schwerer Arbeit«. Er galt damit wie unzählige andere Unschuldige als »Staatsverbrecher«, als »Volksfeind«. Die verurteilten Kriminellen hießen laut offiziellem Terminus »Volksfreunde«. Sie wurden im Gegensatz zu den politisch Gefangenen als »sozial Nahestehende« eingestuft.

Die größte Verachtung Schalamows galt an der Kolyma der Tätigkeit des Brigadiers, der die Gefangenen, also Menschen, die »zum Tode verbannt sind«, zur Arbeit zwingt. Seine Erfahrungen mit den Brigadiers und der Gewalttätigkeit des Lebens im Lager fasste er in dem bemerkenswerten Satz zusammen: »Die Gewalt über einen fremden Willen hielt und halte ich noch heute für das schwerste menschliche Verbrechen.« Für Arbeitsverweigerung wurde man übrigens kurzerhand erschossen.

Für Schalamow steht unzweifelhaft fest, dass keinem Häftling ein Haar gekrümmt wird, wenn es Moskau nicht befiehlt. Trotz permanenter Erniedrigung durch härteste Arbeit, Schläge, die Qual der Gefangenschaft bewahrt er sich einen Rest von Widerstandsgeist: Ein Staat, der ihn unschuldig in ein Konzentrationslager einsperrt, ihn damit umzubringen droht, wird ihn nicht zum »Sklaven« degradieren. »Ich werde für diesen Staat nicht arbeiten.« Das hat man sich wohl so vorzustellen, dass er, wann immer das ging, den verlangten Arbeitseinsatz verzögert, wenn nicht gar sabotiert hat, wobei er immer damit rechnen musste, wegen Arbeitsverweigerung erschossen zu werden. Über seine Arbeit sagt er: »Ich arbeitete schlecht vom ersten Tag an.« Die erzwungene physische Arbeit hält er »für die größte Beleidigung des Menschen«.

Solidarität zwischen den Gefangenen gab es nach Schalmow nicht, denn alle waren Denunzianten. »... man denunzierte einander gegenseitig von den allerersten Tagen an.« Alle Denunzianten, schreibt er, beginnen irgendwann damit, sich »Märchen« auszudenken, »um sich auf ihrem Platz zu halten«. Er habe das und die schlimmen Folgen für die Betroffenen in seiner Haftzeit immer wieder erlebt.

Ob der Mangel an bzw. das völlige Fehlen von Beispielen solidarischen Verhaltens für alle Lager des GULag kennzeichnend war, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Es gab drei Lagergebote: »Glaube nicht - glaube niemand. Fürchte nicht - fürchte nichts und niemand. Bitte nicht - bitte niemanden um irgendetwas. Zähle auf nichts.«

Im Jahre 1937 kam ein bitterer Witz auf, der die Situation der Häftlinge in den Lagern wie auch in der Sowjetunion überhaupt prägnant verdeutlicht: »Ein Mann betrachtet sich beim morgendlichen Rasieren im Spiegel - einer von uns ist ein Verräter.«

FORTSETZUNG FOLGT

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Info:
Waram Schalamow, Über die Kolyma, Erinnerungen, Berlin 2018
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