Waram Schalamow, Über die Kolyma, Erinnerungen; Matthes & Seitz, Teil 2/2
Thomas Adamczak
Otzberg/Odenwald (Weltexpresso) -Besonders schlimm war für Schalamow, dass er während der Haftzeit nicht schreiben konnte. Nicht einmal Gedichte getraute er sich zu schreiben. »Und wenn ich sie doch geschrieben habe, dann habe ich sie beim nächsten Lichtstreif des Verstandes vernichtet.«
Um zu illustrieren, dass der Besitz von Gedichten sich von selbst verbot, bringt Schalamow folgenden Kurzdialog: »Schauen Sie doch, das sind Gedichte.« Antwort: »Ich will nicht einmal schauen. Nein, nein, ich habe eine Tochter!«
Der russische Dichter Ossip Mandelstam schrieb im November 1933 ein Gedicht über seinen Namensvetter Stalin, welches wohl mit zur Verbannung Mandelstams beitrug. Dieser wurde erstmals 1934 und ein zweites Mal 1938 verhaftet und zu Lagerhaft verurteilt. Er starb im Durchgangslager Wladiwastik. (Auszug aus dem Gedicht von Mandelstam: »Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,/ Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,//Die pfeifen, miaun oder jammern./ Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.// Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:/ In den Leib, in die Stirn, in die Augen, - ins Grab.// Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten -/Und breit schwillt die Brust des Osseten.« Kurt Lhotzky)
Die Hauptgefahr bestand aber gar nicht darin, Gedichte zu schreiben und zu haben, sondern jeder Versuch, »etwas zu verbergen und aufzubewahren« drohte von »professionellen Ganoven« entdeckt zu werden.
Für den an den Auswirkungen der russischen Revolution interessierten Leser ist die Roman-Skizze über den lettischen Kommunisten und ranghohen NKWD-Funktionär Bersin (Eduard Berzin, 1894 - 1938) aufschlussreich. Bersin ist der Begründer und Leiter der Straflager des sibirischen »Hohen Nordens« um den Kolyma. Warmam Schalamow skizziert Weltbild und Denkweise dieses überzeugten Revolutionärs: »Wofür hatte er gelebt?« Antwort Bersins (im Roman-Konzept): »für die Revolution, für die Partei ... Das ganze Leben hatte er sich bemüht, seine Pflicht zu erfüllen, so gut wie möglich zu dienen.« »Das Glück, eine Pflicht zu erfüllen -so kann man auch sagen.«
Bersin glaubt an die »Umgestaltung des Menschen« (die Erziehung zum sozialistischen Menschen). Er hatte die Idee, in der Kolyma Arbeits-, Konzentrationslager zu errichten. Diese Idee trug er der Regierung in einem Memorandum vor und konnte sie daraufhin realisieren. Er wurde Generalgouverneur von Ostsibirien und war als dieser »Herr über Leben und Tod zehntausender Menschen, er war die höchste Parteiinstanz, die oberste Sowjetmacht im Goldland, Kommandeur der Grenztruppen an der Grenze zu Japan und Amerika«. Dass an der Kolyma wie im benachbarten Alaska sehr viel Gold zu finden war, war seit dreihundert Jahren bekannt. Aber in der Kolyma fand man nicht nur Gold, sondern auch das »zweite Metall«, alles von Zinn bis Uran. Am wichtigsten war allerdings das Gold, das sogenannte »erste Metall«.
»An einem Tag fördert die Kolyma so viel Gold, dass man für dieses Geld die ganze Welt einen Tag ernähren kann«, schrieb Bersin 1936 in der »Prawda«. Nachdem ab 1937 immer mehr »Trotzkisten«, also politische Gefangene, an die Kolyma geschickt wurden, stets mit der Weisung, »nur für schwere physische Arbeit einsetzen« und »Briefverkehr verbieten« sowie allmonatlich über ihr Verhalten nach Moskau berichten, schrieb Bersin zusammen mit einem weiteren für die Kolyma Verantwortlichen (Fillipow) ein weiteres »Memorandum« an die Adresse seiner Vorgesetzten in Moskau. Die zu Lagerhaft verurteilten »Trotzkisten« taugten unter den Bedingungen des Hohen Nordens nicht für die erforderliche Arbeit, zumal man diese Leute ohne ordentliche medizinische Dokumente verbannt hätte. Außerdem seien unter ihnen viele Alte und Kranke. Zudem sind, schreibt Schalamow, »90 % der neuen Häftlinge Leute aus intelligenten Berufen ...deren Einsatz im Hohen Norden vor allem unökonomisch ist«. Unmittelbar danach wurde Bersin per Telegramm nach Moskau beordert und schon im Zug verhaftet. Im August 1938 wurde er erschossen. Eine Szene aus dem Verhör in seinem Roman-Projekt: »‘Du lachst, du Aas!‘, brüllte der Untersuchungsrichter und schlug Bersin ins Gesicht.«
Im Anhang des Bandes werden je zwei Berichte von Ärztinnen und Arzthelfern über Schalamow wiedergegeben, welche ihm im Lagerkrankenhaus begegnet sind. Darunter ist der von Boris Lesnjak, der nach Ende seiner Lagerhaft (1945) freiwillig als Arzthelfer in der Region blieb. Er gilt als guter Bekannter des Autors Schalamow. Lesnjak war in Moskau verhaftet, wegen der Beteiligung an einer konterrevolutionären Studentenorganisation angeklagt, verurteilt und in die Verbannung geschickt worden. Er hatte sich mit interessierten Jugendlichen in der Wohnung des damals bekannten Fotografen Nappelbaum getroffen, um eigene und fremde Gedichte zu lesen und zu besprechen. In der Anklage wurde unter anderem die Lektüre der Gedichte von Anna Achmatova moniert.
Abschließend noch ein aufschlussreiches Zitat des Autors Schalamow: »Der Grund der menschlichen Seele hat keinen Boden, immer passiert noch Schrecklicheres, noch Gemeineres, als du es gekannt, gesehen und begriffen hast. Wahrscheinlich hat auch die menschliche Fähigkeit zum Guten unendlich viele Abstufungen - das Wesentliche ist nur, dass der Mensch nicht unter die Bedingungen des höchsten Guten gestellt ist.« Und: »Der Weg des Menschen ist das Entdecken seiner selbst - vom ersten bis zum letzten Lebenstag.«
In diesen Aufzeichnungen Waram Schalamows findet sich keine Auseinandersetzung mit der Frage, wieso er im Gegensatz zu den vielen anderen Gefangenen das Grauen des Lagers überlebte. Im Nachwort wird darauf verwiesen, dass viele Überlebende der Shoah sich mit dieser Frage auseinandersetzten, ohne dass sich Thun-Hohenstein der Mühe zu unterzieht, auf den entscheidenden Unterschied zwischen dem KZ der Nazis und dem GULag in der Stalinära einzugehen. Die Überlebenden der faschistischen Lager hatten hauptsächlich deshalb Schuldgefühle, weil sie versuchen mussten zu verstehen, wieso sie überlebt hatten, die übrigen Familienmitglieder aber nicht.
»Auch Schalamow spricht nicht offen aus, ob es ihn quälte, dass auch er in bestimmten Situation des Lagergebot »Stirb heute, und ich morgen« befolgt hatte. Indem er die Frage nach Schuldgefühlen überhaupt anklingen lässt, vermittelt er eine Ahnung von dem moralischen Dilemma des Menschen im Lager, einem Dilemma, dem sich der Überlebende selbst Jahrzehnte später beim Schreiben über das erlebte Grauen nicht entziehen konnte.«
Für die Diskussion über die Frage, warum das sozialistische Experiment nach der russischen Revolution gescheitert ist und die Frage nach künftigen revolutionären Bewegungen ist die Lektüre der Erinnerungen »Über die Kolyma« unerlässlich.
Foto:
Waram Schalamow © matthes-seitz-berlin.de
Info:
Waram Schalamow, Über die Kolyma, Erinnerungen, Berlin 2018
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