kpm Gefangene auf dem Marsch von WO nach Osthofen 1933 jpgFRANKFURT LIEST EIN BUCH vom 16. bis 29. April, Teil 13 - Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“, Teil 3/5

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Als überwiegend brutale und rücksichtslose Nazis stellt Anna Seghers die Westhofener Bevölkerung nicht dar.

Denn neben anpasserischem Gehabe ist im Roman auch von Anteilnahme die Rede. Jemand bekreuzigt sich angesichts der Stacheldrähte und Wachtposten, des nächtlichen Gejohles der Mannschaften sowie der Schreie und Schüsse, die nach außen dringen und nennt die Sträflinge, die unter Bewachung zur Außenarbeit eingeteilt werden, „arme Teufel“. Eine Frau weint angesichts einer Kolonne mit Häftlingen, die durch das Dorf getrieben wird, als sie bemerkt, dass diese Männer bereits vor der Einlieferung durch Schläge übel zugerichtet waren.

In einer Rückblende berichtet Anna Seghers vom Besuch Ellis, Georg Heislers Frau, und ihrem Vater im Lager. „In unerträglicher Beklommenheit bewegen sie sich durch das vom gewöhnlichen Leben dominierte Dorf“, wo ihnen die Leute „in einer Art allgemeinen und ungefähren Mitleids hinterhersehen, etwa so, als gingen sie in ein Spital oder auf einen Friedhof“.

Andererseits ist den Westhofenern und ihren Nachbarn aus den umliegenden Dörfern während der Jahre seit der „Machtergreifung“ der Nazis 1933 aber auch klar geworden, dass man sich mit den neuen Herren gut stellen muss, falls man „in Ruhe arbeiten, heiraten und erben“ will. Um diesen erwünschten Eindruck bei den Menschen zu verfestigen, greift das System zu einer ausgewogenen Dosis aus Anforderungen, Brot und Spielen. Die Jugend erlebt in den benachbarten Städten die traditionellen bäuerlichen Feste nunmehr als inszenierte Aufführungen mit Feuerwerk und Musikkapellen, in welche geschickt Vorträge wie „Das Bauerntum als Wurzel des Volkstums“ eingeflochten werden. Und wenn auf dem Dorfplatz ein „Hitlereichlein“ gepflanzt wird, gibt man sich pragmatisch. Denn auf Jahre hin wird der karge Baum allenfalls den Spatzen einen mäßigen Schatten spenden.

Der „nette junge Bürgermeister“ bestellt seine Tante ein, weil diese beim Anblick einer Häftlingskolonne öffentlich geweint hatte, und versucht ihr klar zu machen, dass im Wiederholungsfall sie sich selbst und ihren Verwandten „für ihr Leben lang Schaden“ zufügen würde. Sturmführer Alwin, der als „von jeher roh“ beschrieben wird, tritt einem der eingefangenen Flüchtlinge mit dem Absatz auf die Finger, als der sich oben am Wagenrand festhält. Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Anteilnahme am Schicksal anderer, vor allem an dem von Minderheiten. Und so schreibt Anna Seghers: „Überhaupt hatten die jüngeren Leute im Dorf, Burschen und Mädchen, ihren Eltern genau erklären können, warum das Lager da sei und für wen, junge Leute, die immer alles besser wissen wollen - nur das die Jungen in früheren Zeiten das Gute besser wissen wollten, jetzt aber wussten sie das Böse besser.“

Obwohl sich die Autorin nicht die Zeit nimmt, um in ihrem Roman ein umfangreiches Bild der sozio-politischen Struktur eines Dorfes wie Westhofen zu zeichnen, gelingt es ihr aber doch, mit wenigen Strichen eine Skizze zu entwerfen, die der Realität eines authentischen Dorfes wie Osthofen in vielem entspricht. Denn nicht nur im fikti­ven West-, sondern auch im tatsächlichen Osthofen hat man von dem „nützlichen Verkehr“ profitiert, den „die Ansammlung und Verpflegung vieler Menschen“ in einem KZ mit sich bringt. In den Nachweisen des zuständigen Polizeiamtes Worms finden sich Listen der Verpflegungskosten des Konzentrationslagers Osthofen. So haben Metzer, Bäcker und Gärtner regelmäßig ihre Waren angeliefert und bezahlt bekommen. Aus den Personalakten der Wachleute dieses und anderer Lager geht hervor, dass bevorzugt arbeitslose SS- und SA-Männer aus der Region zum Dienst in der Hilfspolizei herangezogen wurden, was ihnen zumindest ein bescheidenes Einkommen garantierte. Der Kommandant des Lagers, Karl d’Angelo, Inhaber einer schlecht gehenden Druckerei, lässt Häftlinge in seinem Haus und Garten arbeiten. Er erhält von Parteistellen auch Aufträge für seinen Betrieb. Hierzu gehörte auch die Produktion einer Ansichtskarte des Lagers, die dort von Häftlingen, ihren Besuchern sowie von Dorfbewohnern erstanden werden konnte.

Für die Demütigungen der KZ-Insassen griffen die Verantwortlichen zu diversen Formen. Etwa bei der „Säuberung“ des Dorfes. In Osthofener Unterlagen findet sich diese Beschreibung (die Grammatikfehler des Originals werden übernommen):

„Auf die Feiertage reinigt jede Frau ihre Wohnung; die Gemeinde- und Stadtverwaltungen ihre Straßen. Um jedoch dem Passanten und dem (!) Ausflüglern die Erinnerungen an die 14jahrige Marxistenherrschaft und dessen (!) vernichtenden (!) Folgen, Elend und Armut, diese schönen Reklamen auf Wänden und Häusern zu entfernen, sind heute mehrere Inhaftierte, dabei auch Juden aus dem hiesigen Konzentrationslager, mit Wasser, Bürsten und sonstigem Putzzeug an die Arbeit gegangen, die Erinnerungszeichen für immer zu beseitigen. Ein Hilfspolizist und viele Schaulustige waren Zeugen bei dieser ehrenamtlichen Arbeit.“

In der regionalen Presse finden sich an hervorgehobenen Stellen Fotos, auf denen - wie im Roman geschildert - Häftlinge mit ihren lachenden Bewachern auf dem Marsch nach Osthofen zu sehen sind. Doch es gab auch sichtbare Zeichen der Solidarität aus der Bevölkerung. Ein Metzger übergibt einem Gefangenen, auf den er bei Außenarbeiten trifft, ein Wurstpaket für die Insassen. Ein jüdischer Fabrikant spendet Geld für Decken. Und sicherlich haben die Einwohner von Osthofen ähnlich wie die fiktiven Westhofener im „Siebten Kreuz“ mit gemischten Gefühlen den Besucherströmen zugesehen, die sich laut Presseberichten an den Wochenenden zum Lager bewegten. Solange jedenfalls, bis der Hessische Staatskommissar für das Polizeiwesen, Dr. Werner Best, im Juli 1933 verfügte, dass zur Entlastung des Wachpersonals und angesichts der großen Zahl von „Neugierigen“, Besichtigungen des Lagers künftig nur noch mit seiner vorherigen Genehmigung möglich seien.
Ein Vierteljahr zuvor hatte die „Mainzer Tageszeitung“ noch süffisant gemeldet: „Die Mutter, der Vater oder die Frau mit Kindern der Inhaftierten kamen aufgeregt an und brachten von Worms die Lügen mit, dass die Gefangenen hungern mussten, ja geschlagen, getreten und noch nicht einmal verbunden werden würden ... Aber welche Enttäuschung mussten alle Besucher in der Besuchszeit, die täglich von 2 bis 5 Uhr stattfindet, erleben!“

Ein solches Konzentrationslager für politische Gegner und zunehmend auch für rassisch Diskriminierte in einem gesellschaftlichen Biotop zu installieren, war mutmaßlich nur möglich, wenn man sich einer zumindest relativen Zustimmung in der Bevölkerung sicher sein konnte. Der Politikwissenschaftler und Wahlforscher Eike Hennig hat Jahrzehnte später im Rahmen des „Projekts Osthofen“ anhand von Wahlergebnissen ein politisches Profil dieser Gemeinde anhand vieler Dokumente zusammengestellt. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Ort seit 1928 eine relative und seit 1931 eine absolute Hochburg der NSDAP gewesen sei. Diese habe dort Wahlergebnisse erzielt, die durchschnittlich um 9 Prozent über den Reichswerten gelegen hätten. Die Studie weist auch nach, dass eine früh gegründete und straff organisierte einheimische SS dafür gesorgt habe, dass die Osthofener Nazis - ähnlich wie der fiktive Scharführer Zillich und seine Gruppe in Anna Seghers‘ Roman „Kopflohn“ - schon vor 1933 „im ganzen Hessenland als die gefürchtete Truppe der NSDAP“ bekannt gewesen waren. Auch im „Siebten Kreuz“ taucht Zillich als Prototyp des ewigen Landsknechts wieder auf.

Fortsetzung folgt

Foto:
Gefangene aus Worms marschieren unter der Bewachung von SA, SS und Hilfspolizei von der Bahnstation Osthofen ins Konzentrationslager
© Landeszentrale für politische Bildung in Rheinland-Pfalz