c celineLouis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, Rowohlt, Hamburg 2014

Josef Kühnbach

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Roman „Reise ans Ende der Nacht“ (1932) ist eine moderne Odyssee. Sein Held Ferdinand Bardamu erlebt den ersten Weltkrieg an der Front und im Lazarett, kommt in die afrikanische Kolonie, streift nach Amerika und kehrt schließlich nach Frankreich zurück, ins Kleinbürgermilieu.

Die Stationen der Reise fächern eine Welt auf - wie Homer die mediterrane Welt des 9. Jahrhunderts v. Chr. auffächert - und ist gleichzeitig eine Existenzanalyse des 20. Jahrhunderts.

Die Fronterlebnisse des 1. Weltkriegs übertreffen in ihrer literarischen Darstellung Jünger wie Remarque. Der Krieg wird nicht ästhetisiert, wie Jüngers Schrappnellwölkchen das dürfen, und die Soldaten sind keine Kameradenheroen, wie Remarque sie an der Front findet und dabei ungewollt adelt. Bei Céline ist der Krieg sinnlos und nicht zu begreifen. Odysseus an seinem Kontrapunkt. Die Widerständigkeit, das nicht Einverstanden-Sein, sich nicht Vereinnehmen-Lassen gibt den Grundton der Kriegserzählung.

Der Patriotismus ist der Treibstoff des Krieges, „die Hure Begeisterung“ seine schärfste Kritik, eine Formulierung, die Böll und Grass in den Schatten stellt.

So sehr der Krieg Sarkasmus verdient - wie anders sollte man sich literarisch zu ihm verhalten -, es schleicht sich das Gefühl ein, dass Hohn das Grundverhältnis Célines zur Welt darstellt. Das kann dem Leser nicht gefallen. Ein Zwiespalt tut sich auf. Wer ist dieses erzählende Subjekt, das sich eher in der Feigheit findet, als sich durch irgendeinen Heroismus zu feiern? Das Subjekt, das sich erzählerisch aber auch über alle und alles erhebt, über Herren und Knechte, über Gebeutelte und Depravierte, das durch ein Meer von Gemeinheit watet? Und sich selbst aus allem Niedrigen nicht ausnimmt? Nichts ist satirisch verbrämt, nichts geadelt, nichts getadelt.

Der Kolonialismus, das verkommenste Produkt europäischer Geschichte, wahnsinnig-sinnlos; Joseph Conrad, noch weiter in den Stumpfsinn getrieben. Was immer in den Kolonien unternommen wird, es wird von den diensthabenden Individuen durch grenzenlosen Egoismus und engstirniges Zuständigkeitsdenken ins Zerrbild jeder Mission und jeder Ökonomie gezogen.

Mit Amerika kann Céline so recht nichts anfangen, zufälliges Ziel einer Flucht, Gelegenheit zu neuem Scheitern, besonders an der Arbeit in den Betrieben des Herrn Ford. Etwas weniger gescheitert an der Zuneigung der Damen, die eben im Affekt zum Erzähler über ihr „Gewerbe“ hinauswachsen, aber so sehr Station darstellen wie andere Abenteuer auch. Es gibt keine Heimat, nicht in Amerika, es wird sie auch in Frankreich nicht geben. Céline kennt sie nicht. Er kennt ein Subjekt, das sich in der Welt verliert. Keine Illusion tröstet darüber.

Wir suchen, was den Weg uns weise,
Am Himmel, wo kein Stern uns lacht.
(Aus dem Motto)

Nach den Stationen Erster Weltkrieg, afrikanische Kolonien und Amerika „flieht“ der Held Célines nach Frankreich zurück, um dort als Arzt in ein kleines Leben am Rande des Prekariats einzutreten.

Die Satire gilt jetzt der Medizin und dem Kleinbürgertum. Und was den Lektüreeindruck so zwiespältig macht, ist, dass Sarkasmus gegen Kleinbürger in sich etwas Zwiespältiges trägt. Nachvollziehbar ist die Verachtung über das kleinliche Denken, aber ihre materielle und soziale Lage fordert Anteilnahme für die prekären Bedingungen, aus denen es entsteht.

„Im Eingang der Henrouilles roch es nicht nur nach Rauch, sondern auch nach Küche und Klo. Sie hatten ihr Häuschen erst kürzlich fertig abbezahlt. Das bedeutete gut fünfzig Jahre Sparenmüssen.“ Das geht seitenweise weiter mit zunehmender Bissigkeit. Spott über die kleinen Leute.

Ein besonderes Kapitel ist das Verhältnis des Erzählers zu Frauen. Für eine Frau ist das Betrachten von sadistischer Gewalt unter Männern ein Vergnügen „...fast so groß, wie von einem Gorilla vergewaltigt zu werden“. Natürlich ist das Geschlecht der Frau eine „Goldmine“ und bei einer Fehlgeburt lässt der Arzt den Ehemann „das Loch von seiner Frau anschauen, aus dem Blutgerinnsel herauskommen.“

Es ist nicht ohne Weiteres entscheidbar, ob der Sarkasmus dem knausrigen Ehemann gilt, der eine kostenpflichtige Einlieferung ins Krankenhaus vermeiden will, oder der Figur des Erzählers zuzurechnen ist, der als Arzt jeglichen Respekt und Empathie verloren hat oder ob es nicht doch ein Symptom des misanthropischen Weltverhältnis‘ des Autors ist.

So irritierend, weil der Erzählton durchsetzt mit scharf gestochenen Einsichten in die Depravation von Existenz ist. „Innerlich ist man ja ein feiner Kerl.“ – „Die Eigenliebe trägt noch Sonntagsstaat.“ „Ihre Sehnsüchte waren noch immer dieselben wie früher, haltbar und ranzig, nicht mehr und nicht weniger abgeschmackt als damals...“ - „Die Menschen hängen an ihrem Pech.“ „Ich wusste zuviel, und ich wusste nicht genug.“ -„Alle denken wir mit dem Schwanz!“

Es sind diese Sätze von epigrammatischer Schärfe, die das Erzählte mit Akzentuierungen von existenziellem Bewusstsein höhen.

Célines lässt den Leser im Unklaren, ob sein Erzähler selbst ein Zyniker ist, oder ob er als Zyniker, und somit als ein Symptom des Zeitgeistes, vorgeführt wird. 
Ich bewundere den illusionslosen Blick auf die Verhältnisse, nichts wird geschönt. Und ich schaudere, wenn Illusionslosigkeit in Zynismus umschlägt. Die erzählerische Welt Célines gleicht einer Kippfigur. Gegen Ende des Romans wird das Erzählen selbst in seiner Fähigkeit, Welt verständlich zu machen, in Frage gestellt. „Wenn es keine Lügen mehr zu erzählen gäbe, wirklich, man müsste die Welt für zwei, drei Generationen dichtmachen, mindestens.“

Alle Rezensionen beziehen sich auf Célines Sprache. In der „Reise ans Ende der Nacht“ verbindet sich Hochsprache mit Gasse und Gosse auf legere Weise. Der Eindruck ist wegen des souveränen Gebrauchs der Hochsprache anders, als wenn ein Autor die Gosse als durchgehend veristisches Gestaltungsmittel nutzt. Der Griff zu den sprachlichen Mitteln der Gosse ergibt aber in der inhaltlichen Konzeption Sinn. Hätte Thomas Mann einen Kriegsroman schreiben können? Eine Kleinbürgererzählung sicher. In beiden hätte der Erzähler sich und den Leser auf Distanz zum Niedrigen gehalten, das Niedrige aus Abstand zu betrachten. Céline konfrontiert durch die Sprache sehr unmittelbar.

Nahaufnahmen der Bestie Mensch. Da sind Menschen, auch wenn sie längst tot sind, immer noch „Arschlöcher“. Im Leben bewerfen sie sich mit „Scheiße“, haben Lust auf einen „Vierer“, Offiziere gehen „saufen“. „Brandelore kotzte, pisste und schiss oft Blut. Auch litt er unter Atemnot,“ heißt es über einen Kriegsverletzten. Der Erzähler sucht nicht nur keine moralische Distinktion, er vermeidet sie demonstrativ.

Céline war in seinen späteren Arbeiten Antisemit und hat sich auch, nachdem das ganze Grauen von Auschwitz offenbar geworden, nicht von seinem Antisemitismus distanziert. Der Kulturbetrieb, der ihn nicht anerkannte, war ihm „jüdisch“. Ich habe mich gefragt, ob die Haltung, die Antisemitismus ausmacht, in der „Reise ans Ende der Nacht“ schon präfiguriert sei. Wenn ja, dann in der gekränkten Grandiosität des Helden. Und in der Tat führen Literaturwissenschaftler Célines Antisemitismus auf die Kränkung durch den Literaturbetrieb zurück, der seinen Romanen die gewünschte Anerkennung versagte und dann als jüdische Intrige denunziert werden sollte.

Keine Leseempfehlung! Wer es, von den Schauerlichkeiten und Rätseln angezogen, dennoch lesen will, der möge es lesen.

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Cover © Rowohlt Verlag

Info:

Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, Rowohlt, Hamburg 2014
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