c glorreiche ketzereienDie Krimibestenliste: Die zehn besten Kriminalromane des Monats August 2018, Teil 1

Elisabeth Römer

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wie es zu erklären ist, daß dieser Krimi GLORREICHE KETZEREIEN beim letzten Mal auf Platz 10 landete und jetzt auf dem 1. Rang steht? Ganz einfach und das hat nicht mit einer gruppendynamischen Aktion der Jury zu tun, die ja nicht zusammenkommt und abstimmt, sondern wo jeder einzelne Juror seine Favoriten kennzeichnet. Und wenn ein neuer Roman noch nicht von allen gelesen werden konnte, aber schon herausgekommen ist, dann ist er beim ersten Mal immer wieder ganz am Schluß und zur nächsten Krimibestenliste wie diesmal ganz vorne. 

1(10)
GLORREICHE KETZEREIEN von Lisa McInerney
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Liebeskind, 448 Seiten, 24 Euro
Cork, Irland. Seniorin Maureen erschlägt einen Einbrecher mit einem Heiligen Stein. Die Leiche muss weg. Wie überhaupt alles, was den Anschein von Wohlanständigkeit stören könnte. Poetisch, direkt, kalt servierter schwarzer Humor:
endlos die Spirale von gekränkter Ehre, Demütigung und Gewalt.

"Entdeckung und Debüt auf Deutsch: Lisa McInerney. Die Juroren, die 2015 Glorreiche Ketzereien mit dem Desmond-Elliot-Prize für den besten Debütroman auszeichneten, wussten, was sie taten. Indeed, dieser Roman verbindet „Breite und Tiefe in einer fesselnden Erzählung“, wie die Regularien fordern. Und erhielt gleich noch dazu den angesehenen Women’s Prize for Fiction für den besten englischsprachigen Roman. (Wann werden in Deutschland wohl Kriminalromane große Literaturpreise bekommen?)

Die 1981 geborene Lisa McInerney begann als Bloggerin und mit Kurzgeschichten. Glorreiche Ketzereien ist ein groß(artig)er Roman, glänzend übersetzt von Werner Löcher-Lawrence. Er beginnt mit einem stumpfen Schlag. Die 59-jährige Maureen hat einen Einbrecher mit einer ihrer Devotionalien, einem Heiligen Stein, erschlagen. Sie hat damit kein Problem, wohl aber ihr unehelich geborener Sohn Jim. Der Gangster, einer der Bosse von Cork, hat seine Mutter aus London, wohin sie als gefallenes Mädchen verschoben wurde, wieder zu sich geholt und in einem ehemaligen Bordell am Hafen untergebracht. Um Peinlichkeiten zu vermeiden (Gangster, die sich als ehrbare Kaufleute ausgeben, haben keine unehelichen mordenden Mütter) lässt er den Leichnam des Einbrechers von einem anderen Loser beiseite schaffen.

Dieser Tony Cusack und sein 15-jähriger Sohn Ryan bilden die zweite Familienachse des Romans. Um diese beiden Achsen kreiseln drei weitere Frauen: eine koboldhaft-schnurrige Nachbarin der Cusacks, eine Prostituierte und frühere Geliebte des erschlagenen Einbrechers sowie Ryans Freundin. Sie alle sind durch Familienbande, Liebesbande, Drogenbande, vor allem aber durch einen Komplex aus Fluchtversuchen, Demütigungen und Erlösungssehnsüchten mit- und ineinander verwickelt. Cork, die zweitgrößte Stadt Irlands, entpuppt sich selbst als Insel aus Vorurteilen, Bigotterie, Scham  und Angst, von der niemand entkommen kann. Auch nicht der wohlhabende Gangster oder der talentierte Musiker Ryan. In einer drastischen, zugleich bildhaften und poetischen Sprache gibt McInerney dem literarisch abgelutschten kriminologischen Terminus domestic violence tieferen, anschaulichen Sinn: In einer derart moralisch verkorksten Gesellschaft ist jedes Haus vollgestopft mit Gewalt, die häusliche wird nacherlebbar als Keim der strukturellen Gewalt, die das arme Irland so heftig gebeutelt hat." 

Tobias Gohlis hat auch in der die Liste begleitenden Rundfunksendung Deutschlandfunk Kultur am 29. Juni über Lisa McInerneys "Glorreiche Ketzereien"gesprochen

Kein Entkommen

Lebensklug schildert Lisa McInerney in "Glorreiche Ketzereien" die verzwickten Schicksale ihrer Figuren. (Liebeskind Verlag / imago / Pixsell)In "Glorreiche Ketzereien" sind beinahe alle Themen versammelt, die das Alltagsleben in Irland bestimmen: Drogen, Alkohol, Frauenverachtung, uneheliche Mutterschaft, Allmacht der katholischen Kirche. Lisa McInerney hat einen durch und durch irischen Debütroman geschrieben.

Die "Glorreichen Ketzereien" von Lisa McInerney sind durch und durch irisch. In ihrem hoch gelobten und ausgezeichneten Debütroman versammelt die 1981 geborene Irin beinahe alle Themen, die das Alltagsleben in Irland bestimmen: Drogen und Alkohol, Frauenverachtung, uneheliche Mutterschaft, Allmacht der katholischen Kirche, Bigotterie, Rebellentum und Kriminalität. Der Roman spielt in Cork, einer Hafenstadt im Südwesten der Insel. Dieses Cork, stellt sich heraus, ist selbst als Insel, der ihre Bewohner kaum entkommen können.

Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Totschlag. Robbie O’Donovan, ein kleiner Dealer, dringt nachts in das Haus von Maureen Phelan ein, wird von der älteren Dame mit einem Heiligen Stein erschlagen und geistert fortan als Problem durch das Leben der Beteiligten. Das sind nicht viele, und wie nach und nach deutlich wird, ist ihr Schicksal viel enger miteinander verknüpft, als sie es gerne hätten. Maureens Haus diente früher als Bordell.

Erst für den Zuhälter, dann für Drogen

Darin verdiente die 15-jährige Georgie das Geld zuerst nur für Robbie, ihren Geliebten und Zuhälter, später für Drogen. Die Drogen bekam sie vom gleichaltrigen Ryan. Ryan ist der älteste Sohn des sechsfachen Familienvaters und Säufers Tony Cusack. Diesen Loser wiederum beauftragt Maureens Sohn, der Gangster Jimmy Phelan, die Leiche des erschlagenen Robbie zu beseitigen. Sie alle führen ein Leben auf der Kante: Getrieben von gekränkten Gefühlen, Rachedurst und Sehnsucht nach einem besseren Leben.

McInerney erzählt von einem Leben, das sich im Unglück verschwendet. Ein Symbol dieser Lebensverschwendung ist ein Klavier. Zunächst stand es im Hause Cusack. Sohn Ryan tröstet sich damit, kann es sehr gut spielen. Er ist ein begnadeter Musiker, aber niemand weiß das. Als der Gangster Phelan seiner Frau ein Hobby schenken will, kauft er Ryans immer klammen Vater das Klavier ab, das von da an nie wieder benutzt wird. Anscheinend bleibt dem tief verletzten, begabten Jungen nur der Weg in Drogen und Kriminalität.


Niemand hat eine Chance

McInerneys liebevoll gezeichnete Figuren leben in Cork wie unter einer Glasglocke: Je höher sie springen, desto heftiger werden sie zurückgeworfen. Und niemand hat eine Chance: die Frauen noch weniger als die Männer. Maureen musste ihr unehelich geborenes Kind weggeben und entwurzelt in London leben. Das war in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts. Die jüngere Georgie wiederholt ihr Schicksal, nichts ist besser geworden.

Dieser Roman ist großartig: Lebensklug schildert Lisa McInerney die verzwickten Schicksale ihrer Figuren. Ihre Sprache ist zupackend, direkt und zugleich poetisch. Ihr Roman handelt nicht vom großen Irlandkonflikt, sondern von der Verheerung einer Gesellschaft durch häusliche Gewalt Unter den Teppich gekehrt, befördert von einer heuchlerischen Moral, infiziert sie die ganze Gesellschaft mit Unglück, Verzweiflung und Zerstörung.

Frauen feiern das Ergebnis des Abtreibungs-Referendums in Irland (AFP / Barry Cronin)

Man versteht: Die gerade mit überwältigender Mehrheit beschlossene Freigabe der Abtreibung ist nur ein erster wichtiger Schritt zu einem freieren Irland.


2(–)
Joe Ide
Stille Feinde
Aus dem Englischen von Conny Lösch.
Suhrkamp, 398 Seiten, 14,95 Euro

Los Angeles, Las Vegas. Privatermittler IQ, der Spitzname sagt alles, jagt den Mörder seines Bruders, rettet die spielsüchtige Schwester seiner Angebeteten und deren dämlichen Lover, trickst die Triaden und die Locos Surenos aus und lehrt sogar seinen Pitbull zu gehorchen. Schneller Witz, schlauer Spaß.


3(4)
Joyce Carol Oates
Pik-Bube
Aus dem Englischen von Frauke Czwikla.
Droemer, 208 Seiten, 19,99 Euro

Harbourton, New Jersey. Andy Rush sonnt sich: Schönes Haus, engagierte Frau, dickes Auto, Millionen. Bis der „Stephen King für ildungsbürger“ des Plagiats beschuldigt wird und sich sein garstiges Zweit-Ich, der Pik-Bube, daranmacht, den braven Andy zu übernehmen. Spießer-Ego auf Rasierklinge.


4(2)
Dominique Manotti
Kesseltreiben
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Ariadne im Argument-Verlag, 400 Seiten, 20 Euro

Paris, New York, Montreal. Schlaue, ohnmächtige Ermittler. Dumm oder inkompetent: die Regierung in Paris. Der US-Konzern PE will die französische Orstam übernehmen. Die unfairen Mittel des Giganten: Erpressung, Bestechung, Mord. Assistiert von CIA und Justiz. Böses Lehrstück, mit langer Halbwertzeit.


5(–)
Melanie Raabe
Der Schatten
btb, 416 Seiten, 16 Euro

Wien. Journalistin Norah fühlt sich umstellt, verfolgt, gestalkt. Eine Bettlerin prophezeit, sie werde im Prater den ihr unbekannten Arthur Grimm töten. Hat der Unbekannte mit dem Tod von Norahs Jugendfreundin zu tun? Wird Norah zur Mörderin werden, wird sie manipuliert? Wenn ja, warum?


6(–)
Claudia Piñeiro
Der Privatsekretär
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Unionsverlag, 320 Seiten, 22 Euro

Buenos Aires, La Plata. Politiker Rovira will die Provinz Buenos Aires teilen, um dem Alsina-Fluch zu entkommen. Denn nur so kann er Präsident werden. Diesem Ziel wird alles geopfert: Frau, Freundschaft, Moral. Der Fluch Argentiniens: skrupellose Machtgier. Die frisst sogar Kinder. Ausgeklügelt böse.


7(1)
Denise Mina
Blut Salz Wasser
Aus dem Englischen von Zoë Beck.
Ariadne im Argument-Verlag, 368 Seiten, 19 Euro

Glasgow, Helensburgh. Wer nimmt den Drogenhändlern ihre Millionen ab – Police Scotland oder Metropolitan Police? Das ist der Grund, warum DI Alex Morrow die verschwundene Roxanne sucht. Und auf Frauenleichen stößt. Alex lässt sich nicht beirren, nicht von Bossen, nicht von Gangstern.


8(–)
Gianrico Carofiglio
Kalter Sommer
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull.
Goldmann, 352 Seiten, 20 Euro

Bari, 1992. Während eines Bandenkriegs wird der Sohn von Mafiaboss Dreizylinder entführt und stirbt. Ein Mafioso wird Kronzeuge, die Cosa Nostra ermordet in Sizilien Borsellino und Falcone, die Polizei von Bari tappt durch Grauzonen. Zufall, Schicksal? Roman und Reflexion einiger Geschehnisse.


9(6)
Tom Bouman
Im Morgengrauen
Aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer
und Anke Caroline Burger.
Ars vivendi, 350 Seiten, 22 Euro

„Wild Thyme“, Pennsylvania. Ortspolizist Henry Farrell würde am liebsten nur fiedeln und jagen. Aber Penny ist verschwunden, ein Dealer liegt
erschossen im Fluss. Die Lage: sumpfig, opak, verworren. Sie ähnelt dem Haufen Balken, aus dem eine Scheune entstehen soll, an der Henry
mitbaut.


10(–)
Max Annas
Finsterwalde
Rowohlt, 400 Seiten, 22 Euro
Berlin, Finsterwalde. Wer nicht weiß ist, wurde vertrieben oder kaserniert, deutscher Pass hilft gar nichts. Um Kindern das Leben zu retten, flieht Ärztin Marie aus dem Lager Finsterwalde, riskiert das eigene Leben in einem Deutschland, in dem Schwarze Freiwild sind. Schöne neue Zukunft mit „Politik für Euch!“





Die Jury: Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ | Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank, „Sonntagszeitung“ | Thekla Dannenberg, Perlentaucher“ | Hanspeter Eggenberger, „Tagesanzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ | Jutta Günther, „Nordwestradio“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Polar Noir“ | Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ | Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“| Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering, „Spiegel Online“, „Krimi-Welt“ | Ulrich Noller, „Deutsche Welle“, WDR | Frank Rumpel, SWR | Margarete von Schwarzkopf, Literaturkritikerin |Ingeborg Sperl, „Der Standard“ | Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ | Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“


Info:
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
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