Thomas Scheben
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Heute ist die Frankfurter Buchmesse die größte Bücherschau der Welt. Sie war es schon einmal, vor einem halben Jahrtausend. Vor siebzig Jahren kehrte sie an den Main zurück.
Vor über fünfhundert Jahren, in der Mitte des 15. Jahrhunderts erfand Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, den Buchdruck mit einzeln in Metall gegossenen Buchstaben und gründete in Mainz eine erste Druckerwerkstatt. Das neue Medium setzte sich schnell am Markt durch und wurde binnen weniger Jahrzehnte zum Massenartikel. Über zwei Jahrhunderte war Frankfurt der europa- und damit weltweit führende Platz für den Handel mit dem gedruckten Wort und seinem wichtigsten Rohstoff Papier.
Ein kostbares Gut für wohlhabende Käufer
Bücher hatte es freilich schon früher gegeben. Kopisten, meist Mönche, erstellten Schriften und Abschriften auf Pergament, die zumeist in großen Formaten aufwendig gebunden waren. Entsprechend waren sie schwer, unhandlich – und vor allem teuer. Zumeist waren es Auftragsarbeiten für Klöster, Fürstenhöfe und reiche Patrizier, mit denen aber auch schon in geringem Umfang Handel getrieben wurde oder die an den großen Handelsmessen ihrem Besteller übergeben wurden. So auch in Frankfurt, bereits im Mittelalter und seit dem Jahr 1240 mit kaiserlichem Privileg geadelter führender europäischer Handelsplatz, wo 1370 erstmals ein Buchverkauf einer Handschrift urkundlich belegt ist. Ob der Erfinder der „Schwarzen Kunst“ jemals selbst seine Erzeugnisse in Mainz präsentiert hat, oder wann überhaupt zum ersten Mal ein gedrucktes Buch in Frankfurt gehandelt und damit die erste Buchmesse begründet wurde, ist nicht bekannt. Sicher ist aber, dass es bereits 1462 eine voll entwickelte Messe für Druckerzeugnisse gegeben haben muss, denn als die Unternehmensnachfolger Gutenbergs wegen der unsicheren politischen Situation in Mainz einen neuen Platz für den Verkauf ihrer Erzeugnisse suchten, war Frankfurt offenbar die erste Wahl.
Das gedruckte Wort wird zum Exportschlager
Das neue Medium erlebte einen rasanten Aufschwung. Um 1500 druckten europaweit 1100 Druckereien in 254 Städten rund 30.000 Titel in zwölf Millionen Exemplaren, woran damals Italien und dort zuvörderst Venedig den weitaus größten Anteil hatten. Frankfurt wuchs mit, und bereits in den 1480er Jahren hatte das Buch die übrigen Handelswaren auf die Plätze verwiesen: die Frankfurter Messe war eine Buchmesse geworden. In der seit 1518 so genannten Buchgasse, die von den Anlegestellen am Main durch das Leonhardstor zu erreichen war, konzentrierten sich die Lagergewölbe der Händler, die dort ihre Waren feilboten und zwischen den Messen einlagerten.
Der Transport der Druckerzeugnisse war mühsam und teuer. Für zwei Kisten oder Fässer bedruckten Papiers von zehn Zentnern Gewicht waren für 700 Kilometer von Lyon nach Frankfurt nach heutigem Wert zwei- bis dreihundert Euro zu entrichten – und Verluste durch Regenwasser sowie Wegelagerer waren ebenfalls einzukalkulieren. Trotz allen Aufwandes und aller Kosten war der Buchhandel profitabel. Für den Preis einer Luther-Ausgabe des Neuen Testaments konnte man 1522 wahlweise 2 Kälber, 6 Schafe, 15 Gänse kaufen oder den Jahreslohn einer Dienstmagd entrichten.
Dementsprechend wuchs die Messe Jahr für Jahr. Damals wie heute trafen sich die Granden des Buchgewerbes, kamen Autoren, um ihre Manuskripte anzubieten und die Freiexemplare loszuschlagen, die ihnen anstatt Honorar überlassen wurden. Bibliothekaren wurde die Einkaufstour zur Messe in den Arbeitsvertrag geschrieben, und nicht nur Elisabeth I. von England sandte Agenten, um die neueste wissenschaftliche Literatur für ihre Universitäten anzuschaffen. Sehr bald wurde der Bücherverkauf an Endkunden vom Handel zwischen den Drucker-Verlegern überholt, die ihre Neuerscheinungen auf der Messe untereinander austauschten. Die halbjährliche Abrechnung dieses Handels zumeist auf der Basis des Papierpreises, als „Frankfurter Tax“ bekannt, wurde zu einem der wichtigsten Besuchsgründe.
Zunehmend differenzierte sich die Buchproduktion. Drucker wurden zu Auftragsnehmern der Verleger, eigentlich „Vorleger“, denn sie „legten“ das Geld für die Buchprojekte „vor“, Kommissionäre übernahmen in Frankfurt und Zwischenlagern in größeren Städten den Handel zwischen den Messen, wandernde „Buchführer“ vertrieben die in Frankfurt erworbenen Produkte auf lokalen Messen und Jahrmärkten. Gebunden wurden die Bücher wegen des hohen Gewichts normalerweise erst am Verkaufsort, woraus sich dann ein stationärer Buchhandel entwickelte.
Luther-Bibel sorgt für Rekord-Umsätze
Noch war die Zahl der Käufer begrenzt, nur wenige Menschen konnten überhaupt lesen, noch dazu Latein, in dem die antiken Klassiker ebenso wie die theologischen und juristischen Werke und damit der größte Teil der Buchproduktion verfasst wurden. Man schätzt, dass von den rund zwölf Millionen Bewohnern des deutschen Sprachraums überhaupt nur etwa 60.000 Gedrucktes lesen konnten; Anfang des 16. Jahrhunderts trat bei ihnen eine Marktsättigung ein. Aus dieser ersten Absatzkrise des Buchhandels wurde die Branche durch Martin Luthers Thesenanschlag 1517, die von den Reformatoren ausgelösten theologischen erbitterten Debatten mit der katholischen Gegenseite, aber auch die nicht minder heftigen Dispute der verschiedenen reformatorischen Richtungen untereinander, in einen neuen Boom hineinkatapultiert. Vor allem stieg der Anteil des deutschsprachigen Schrifttums rasant an und es entstanden neue Literaturformen, darunter eine Unterhaltungsliteratur aus Fabeln, Ritterromanen und Berichten der großen Entdeckungsreisen. Allein Luthers Bibelübersetzung verkaufte sich zu seinen Lebzeiten 200.000 Mal, Raubdrucke nicht mitgerechnet.
Damals wie heute wirkte die Messe als Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Debatten. Frankfurt gewann hohes Ansehen als Intellektuellenzentrum, auch ohne eigene Universität, konnte man doch in der Buchgasse mit Luthers Partner Melanchthon über Theologie, mit Giordano Bruno über Astronomie oder mit Dürers Frau Agnes über die Werke des Nürnberger Großmeisters diskutieren. Und sie kamen gern nach Frankfurt, denn hier ließ es sich nicht schlecht leben: Die Stadt, so hieß es, habe mehr Wein in den Kellern als Wasser in den Brunnen!
Der Buchmarkt nimmt professionelle Strukturen an
Im Jahr 1564 erschien erstmals ein Messekatalog eines Händlers, ab 1598 wurde zu den beiden Messen ein amtlicher „Ratsmeßkatalog“ der Neuerscheinungen publiziert, von dem zeitweise sogar in London eine englische Übersetzung erschien. Was für die Kunden eine willkommene Informationsquelle war, diente zugleich dem Urheberschutz, denn die verzeichneten Bücher waren von den jeweiligen Landesherrn oder gar dem kaiserlichen Hof mit einem Druckprivileg zumindest einigermaßen vor Raubdrucken sicher, indem dieses Buch im jeweiligen Herrschaftsbereich nur aus diesem Verlag verkauft werden durfte.
Das hieß aber auch, dass es zuvor die Zensur durch die kaiserliche Bücherkommission zu passieren hatte. Mit zunehmender Schärfe der konfessionellen Auseinandersetzung ging diese unter Leitung eines Frankfurter Kirchenfunktionärs immer restriktiver vor, und der aus geschäftlichem Interesse bislang eher laxe Rat der Stadt fand nicht mehr die Courage, sich in den Krisenjahrzehnten vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges gegen den katholischen Furor des Wiener Hofes zu behaupten. Während katholisch geprägtes Schrifttum weitgehend unbehindert erscheinen konnte, wurden protestantische Publikationen, selbst wenn sie in ihren Herkunftsländern bereits die Zensur passiert hatten, immer häufiger indiziert und beschlagnahmt. Viele der Großverleger sympathisierten ohnehin mit der Reformation, deren Bücherflut zusammen mit der Bildungsbewegung des Protestantismus das Gravitationszentrum der deutschen Buchproduktion vom Süden und Westen nach Osten verschoben hatte.
Leipzig läuft Frankfurt den Rang ab
Mit ihrer langen Messetradition, die auch schon früh Bücher einschloss, bot die Stadt Leipzig neben Offenheit, Toleranz und einem hohen Maß an Gewerbefreiheit im Unterschied zu Frankfurt mit seinem eher ländlich-ackerbürgerlich geprägten Umland im Zentrum einer früh industrialisierten Region zahlreiche Gewerke, die ortsnah alles zu liefern vermochten, was für den Buchdruck benötigt wurde.
Entsprechend positiv reagierte die Buchbranche auf die Anreize der sächsischen Kurfürsten, deren Bücherkommission sich von einer Kontrollbehörde mehr und mehr zu einem Instrument der Wirtschaftsförderung namentlich im Bereich des Urheberrechtsschutzes entwickelte, und wählte Leipzig für ihre jährlichen Branchentreffen und zunehmend auch als Produktionsstandort; eine Rolle spielten dabei auch die Kriege des späten 17. und 18. Jahrhunderts, von denen Handel und Wandel besonders im Frankfurter Einzugsbereich stark betroffen waren.
Frankfurt blieb indes auch nach dem Dreißigjährigen Krieg noch regionaler Handelsplatz für die katholischen Regionen Süd- und Westdeutschlands sowie die europäischen Nachbarregionen, die indes an der deutschen Literatur keinen Anteil hatten. Für die lateinisch publizierenden Gelehrten war, wie der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz bemerkte, die Frankfurter Messe „das universalste Emporium literarum durch Teutschland“ selbst noch, als sich Geistesleben und literarische Produktion in deutscher Sprache in den Norden und Osten verlagert hatten. Von 1681 bis 1690 erreichte des Leipziger Buchgewerbe das Doppelte, von 1721 bis 1730 sogar das Achtfache der Frankfurter Produktion; die Einstellung des Frankfurter Ratsmeßkatalogs im Jahre 1750, dessen letzte Ausgaben kaum noch zwanzig Seiten umfasst hatten, leitete das langsame Auslaufen der Frankfurter Büchermesse ein.
Foto:
© Christian Setzepfandt, kultours
© Christian Setzepfandt, kultours