Natascha Kampusch spricht von ihrem Martyrium in „3096 Tage“ im List Verlag

 

Claudia Schulmerich

 

Bewunderung. Abscheu. Mitgefühl. Wut. Beklemmung. Tiefe Sympathie. Dankbarkeit. Das sind so viele Gefühle, die über einen hereinbrechen, wenn man das Buch, das Natascha Kampusch unter Mithilfe von Heike Gronemeier und Corinna Milborn auf 283 Seiten über ihre Entführung, ihre achteinhalbjährige Folter und ihre Befreiung durch sich selbst schrieb, sorgfältig liest.

 

Obwohl man ab der Mitte etwa nicht mehr weiterlesen möchte, wenn Natascha Kampusch so wenig weinerlich und nüchtern, wie sie im ganzen Buch über sich und zu uns spricht, aus ihrem Verlies-Tagebuch – wirklich „Aus einem Totenhaus“ - zitiert, wo sie die Schläge, die Quälereien, die bösen körperlichen Qualen als Aufzählung quasi sachlich seitenlang notiert. Jede Zeile tut uns selber weh und ist vielleicht nur aushaltbar, weil wir verstehen lernen, daß körperliche Schmerzen höllisch weh tun, daß aber noch schlimmer die seelischen und geistigen Schmerzen sind, die dieser von ihr nur „Täter“ genannte Verbrecher und von ihr als „armes Würstchen“ erkannte Mann ihr antat.

 

Dies ist ein Buch, von dem man seitenlang schreiben möchte oder nur sagen: „Bitte lesen.“ Denn unaufhörlich kommen einem so viele Gedanken in den Kopf: wie kann so etwas passieren, warum gerade dieses Mädchen, wie kann eine ganze Umwelt wegsehen und nichts gemerkt haben oder auch: wieso konnte sie das überhaupt überleben, wie kann ein Kind mit zehn Jahren die Weisheit aufbringen, mit der diese dann Achtzehnjährige ihre Befreiung endlich verwirklichen kann, nachdem sie immer wieder an sich selbst scheiterte. Was man so gut verstehen kann. Nach diesem Buch. Und darum die Empfehlung, es selbst zu lesen, weil dies kein Buch ist, über das man durch eine Rezension mehr als den Inhalt erfährt.

 

Was wirklich passiert ist und was sich im Herzen, im Kopf, im Gemüt und dem Körper der Eingesperrten und Gefolterten zutrug, das kann Natascha Kampusch auf ihre fast neutrale Art der Erzählung,- nein, sie erzählt nicht, sie berichtet, - besser in unser Herz und unser Hirn hineinschreiben, als wenn sie den Vorgängen die in der deutschen Sprache auch möglichen eloquenteren Varianten gegeben hätte. So macht der Text, frei von jeglichem Sentiment und auch jeglicher Attitüde, den Eindruck, daß er wirklich von ihr ist und das nicht nur der Inhalte wegen, sondern auch der schnörkellosen, manchmal sperrigen Sprache, von der man hofft, daß sie der Ausdruck eines sperrigen Menschen ist, denn ein anderer hätte das nicht durchgestanden.

 

Dabei ist die große Überraschung beim Lesen, wie wenig der Täter dämonisiert wird, welches Verständnis sie nach und nach für seine labilen Charakter, dessen Struktur und seine Kaputtheit entwickelt, wobei man beim Lesen fein unterscheiden lernt, wo sie aus Taktik klein beigibt und sich seinen Wünschen und Launen fügt oder wo sie quasi mit dem psychoanalytischen Blick auch ihm, dem durch die Situation Dominanten und Diktator bedeutet: Bis hierher und nicht weiter. Und er sich fügt oder sie erneut schlägt. Aber nicht umbringt. Und da sie überlebt hat und er nicht, gibt ihr auch die Geschichte recht. Dazu braucht Natascha Kampusch keinerlei Rechtfertigungen, die ihr unsere angeblich so aufgeklärte und in Schlagworten wie Stockholm-Syndrom banalisierende Klippschulenpsychologie aufdrängt.

 

Das ist eine der stärksten Leseerfahrungen, daß man auch diese Seite einer Gefangennahme verstehen lernt, wie nämlich der einzige Mensch, mit dem man über so viele Jahre Wort wechseln kann, nicht immer nur der Feind bleiben kann. Grundsätzlich in der Analyse schon, aber im täglichen Ablauf des Lebens wird man froh, wenn er einem zu essen gibt, mit einem am Tisch sitzt, ein Wort wechselt, eine Frage stellt, irgendeine menschliche Regung zeigt, die der eingesperrten Natascha das Gefühl von sich selber geben kann. Mit einem Wort, wir können nach dem Lesen dieses Buches nur noch mit Verachtung auf all die Schlaumeier reagieren, die sich mit irgendwelchen Vorschlägen, wie Natascha Kampusch sich selbst schon früher hätte befreien können, hervortun. Dieselbe Verachtung gilt auch denen, die sie heute noch nicht in Ruhe lassen, ihr ob ihres Buches aus eigener Feder Geld- oder Ruhmsucht attestieren und sich darob noch nicht einmal schämen.

 

Wir wollen Natascha Kampusch in Ruhe lassen, kein Interview ist mehr nötig, um über das im Buch Gesagte, das wesentlich ist, etwas hinzuzufügen. Aber das Buch geht über den Einzelfall des kleinen Mädchens, das gekidnappt wird, jahrelang eingesperrt und gefoltert wird, weit hinaus. Am stärksten haben uns nämlich in den „3096 Tagen“ die noch höhere Anzahl der Tage vor der Entführung interessiert. Und tatsächlich halten wir das auch literarisch für eine Leistung, was der Autorin über ihre Kindheit – Geburt am 17. Februar 1988 – auf den ersten 40 Seiten gelingt. Noch niemals haben wir so einprägsam und ausweglos von einem Kind erzählt bekommen, das seine Eltern liebt und auf ihre Liebe angewiesen ist und dennoch die Schwächen und Lieblosigkeiten dieser Eltern gnadenlos beschreiben kann, aber eben diese egoistischen Eltern dennoch tief liebt und auch für Vater und Mutter, die sich nicht verstehen und es am Kind auslassen, Verständnis aufbringt. Wie später für den Täter.

 

Das ist eine Korrespondenz, die nachdenklich macht. Und die aufrührerisch werden läßt. Es ist eine Allerweltsweisheit, daß man Kinder zu eigenen, gefühls- und willensstarken kleinen selbstbewußten Menschen erziehen soll. Nur wie macht man das? Was diese Eltern – hilflos und sich selbst als Opfer fühlend – mit ihrem Kind zuwegebringen, ist das Gegenteil. Sie produzieren ein sich klein, schäbig, dick und unwert fühlendes Kind, das von vorneherein glaubt, daß es am unteren Ende der Menschenpyramide genau richtig postiert ist. Also die Unterlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühle, die ein Opfer braucht, gleich mitbringt. Wir können gut verstehen, daß diese Frage, warum sie vom Täter ausgewählt wurde, Natascha Kampusch besonders quälte, seit sie wußte, daß der Täter sich im Umkreis ihres Vaters, mit dem sie häufig Lokale aufsuchen mußte, aufgehalten hatte. Nur kann es auch sein, daß hier ein Nachteil zum Vorteil wurde.

 

Ob ein selbstbewußtes Kind und angehende Pubertierende das alles ausgehalten hätte, was Natascha Kampusch in ihrem Martyrium durchgestanden hatte, das kann man dann auch wieder bezweifeln. Mit einem solchen Kind hätte der Täter gar nichts angefangen gewußt, es also nicht als Sklaven gebrauchen könnte, denn genau darum ist es dem Täter – auch wir wollen den Namen gar nicht nennen und ihn durch Namenlosigkeit bestrafen - die ganzen Jahre gegangen, sich als Herr über das Geschehen und einen anderen Menschen fühlen zu können. Absolut krank also. Aber, mag sein, daß ein selbstbewußtes Kind dies Martyrium nicht ausgehalten hätte, aber wahrscheinlich wäre es vom Täter auch nicht ausgesucht worden. Es spricht also weiterhin alles dafür, kleinen Kindern, jungen Menschen ein Selbstwertgefühl zu vermitteln, das sie stark macht denen gegenüber, die sie kujonieren wollen. Und klein machen wollen.

 

Natascha Kampusch, 3096 Tage, List Verlag 2010