Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Zum vierten Mal liest die Stadt Frankfurt gemeinsam ein Buch und die vergangenen drei Jahre zeigten, wie früchtereich die Idee des Verlegers Klaus Schöffling war, dies in der Bücherstadt Frankfurt in Gang zu setzen und als 1. Vorsitzender des Vereins FRANKFURT LIEST EIN BUCH e.V. auch das diesjährige Buch GINSTER von Siegfried Kracauer mitauszuwählen.

 

Anders nämlich als im Jahr 1998, als in Seattle, wo das erste Mal: One City-one Book durchgeführt wurde, was sich vierhundertmal über das ganze Gebiet der USA verbreitete, haben sich die Frankfurter von Anfang an, also dem Jahr 2010, darauf beschränkt, daß die jährliche Auswahl des in der Stadt gelesenen Buches eines sein soll, in dem die Stadt Frankfurt eine Rolle spielt. Eine 'Beschränkung', die in Wahrheit eine Vervielfältigung ist, denn durch diese Konzentration auf die Stadt Frankfurt werden auch die Einwohner erreicht, die nicht zu den Leseratten gehören und nicht ohne Weiteres eine der diesmal über 70 Veranstaltungen an 50 verschiedenen Orten mit rund 120 Personen auf den Podien in zwei Wochen vom 15. bis 28. April aufsuchen.

 

Welche das sind und wie viel Beiwerk es darüber hinaus gibt, wurde auf einer Pressekonferenz in Frankfurt von fünf Personen dargestellt. Klaus Schöffling als Initiator begründete die diesjährige Auswahl mit GINSTER, einem der zwei Romane, die der am 8. Februar 1889 in Frankfurt geborene und am 26. November in New York gestorbene Siegfried Krakauer, als Journalist, Soziologe, Geschichtsphilosoph und erster Filmtheoretiker und Filmkritiker verfaßte. Eigentlich hätte man auch dessen umwerfende empirische Studie DIE ANGESTELLTEN, die Kracauer 1930 als erste soziologische Untersuchung dieser aus den neuen Besitzverhältnissen durch Industrialisierung und Verstaatlichung stammenden Schicht vorlegte, nehmen können, so aufschlußreich und entlarvend gleichermaßen kann er das neu entstandene Kleinbürgertum analysieren. Welch deutliche Worte Kracauer fand, kann man auch daraus ersehen, daß DIE ANGESTELLTEN gleich im Mai 1933 zu den Exemplaren gehörte, die bei der Bücherverbrennung zu Asche wurden. Aber die Erzählform als Roman bindet mehr Menschen, weshalb alles für GINSTER spricht.

 

Das Buch lobten auch Felix Semmelroth, Dezernent für Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt, Wolfgang Schopf, Herausgeber des Briefwechsels Adorno-Kracauer und Organisator der Begleitausstellung sowie des Kurzführers zu Kracauer, Julia Ketterer, die Lektorin des Suhrkamp Verlages und Lothar Ruske, der für Planung und Organisation Zuständige, der die wichtigsten Termine der vielen Veranstaltungen mitteilte, von denen er gleich meinte, wichtig seien alle,weshalb ab sofort das kleine Heft mit der Veranstaltungsfolge an verschiedenen Stellen Frankfurts ausliegt, aber auch auf der Webseite – siehe unten - angeschaut werden kann.

 

Mit der Hauptperson, dem DRÜCKEBERGER und Anti-Helden Ginster, ist einer gefunden, der die Hauptströme der Geschichte – hier des Ersten Weltkrieges – vor sich hin strömen läßt und rechts und links des Weges vor sich hinblüht, wie der Ginster an den Bahngleisen. GINSTER ist 25 und ein begabter Frankfurter Architekt, dessen Haltung zur Welt eine ist, die schon in der Romantik Furore machte, als das Dazwischen und das Anderssein noch gelebt werden konnte und zumindest literarisch als mögliche Lebensform Anerkennung fand. Wir kommen auf den Roman zurück und werden ihn als Buch und Hörbuch vorstellen, wie auch über Siegfried Kracauer und dessen Schriften im Kontext der beiden Wochen berichten.

 

Nach den sich steigernden Erfolgen der Frankfurter Buchaktionen, von Valentin Sengers KAISERHOFSTRASSE 12 (Schöffling & Co) im Jahre 2010, darauf ABSCHAFFEL (Hanser) von Wilhelm Genazino und 2012 Silvia Tennenbaum mit STRASSEN VON GESTERN (Schöffling & Co) kommt nun GINSTER aus dem Suhrkamp Verlag mit noch erlauchterer Verwandtschaft daher. Denn Kracauer war ja nicht nur der berühmt-berüchtigte Journalist der Frankfurter Zeitung, sondern wirklich derjenige, der die theoretischen Grundlagen zu etwas wie einer Filmsoziologie legte, weil er in dem neuen Medium, ähnlich wie der etwas jüngere Walter Benjamin, eine völlig neue Art der Wahrnehmung erkannte.

 

Folgerichtig wird auch das Filmmuseum bei FRANKFURT LIEST EIN BUCH dabei sein und vier Filme aus den Jahren rund um 1930 zeigen. Kracauers Filmkritiken sind aktuelle von damals, aber sein Standardwerk VON CALIGARI ZU HITLER aus dem Jahr 1947 schrieb er im Exil in Amerika über die deutschen Filme der 20er Jahre unter dem Tenor, wie sehr sich schon in den Filmen die Tendenz der Zeit zeigte. Der erste der vier Filme MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK von 1929 ist noch ein Stummfilm und wird schon am 2. April gezeigt, weshalb es unabdingbar ist, sich das Programm des Lesefestes schon heute in den Buchhanldungen oder vielen Pklätzen der Stadt zu besorgen, auch deshalb, weil viele Veranstaltungen vom Platz her limitiert sind und man sich rechtzeitig anmelden sollte.

 

Felix Semmelroth fand liebevolle Worte für die Wiederentdeckung des Romans GINSTER, der schon einmal nach der Veröffentlichung im Verlag S. Fischer 1928 von Siegfried Unseld im Suhrkamp Verlag zusammen mit dem Roman GEORG in den 60er Jahren herausgebracht wurde, allerdings hatte Unseld sich die Freiheit genommen, das letzte Kapitel dabei wegzulassen. Die Wiederentdeckung des Romans heute hat für Semmelroth auch etwas mit der Wiederentstehung der speziellen Frankfurter Schule zu tun, Frankfurter Intellektuelle und Schriftsteller, die in den 20er und so lange wie möglich auch 30er Jahren durchaus als wissenschaftliche Nachwuchskonkurrenz ihren Austausch im Café Westend pflegten. Zuvor allerdings hatte der jugendliche Theodor W. Adorno samstagnachmittäglich mit dem 14 Jahre älteren Kracauer Kant gelesen, was für eine lange Bekanntschaft spricht.

 

Freuen kann man sich auch auf die Begleitausstellung BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER IN FRANKFURT AM MAIN, die Wolfgang Schopf verantwortet und die am 17. April im Haus des Buches eröffnet wird. Er hat auch das kleine Heft mit fast gleichem Titel zusammengestellt, das die wichtigsten Aussagen zu Kracauers Frankfurt zusammenfaßt und mit der Schutzgebühr von 3 Euro so richtig leserfreundlich geworden ist. Denn leider gibt es den neu herausgekommenen Suhrkampband GINSTER erstmal nur gebunden, was zwar viel schöner, aber auch teurer ist, weshalb die Taschenbuchausgabe im besten Sinne 'günstig' wäre, die auch kommt, aber erst im nächsten Jahr! Fortsetzung folgt.

 

 

INFO:

Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag

Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg

Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag

Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag

Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag

 

Foto 1: Rolf Maass

v.l. Wolfgang Schopf, Julia Ketterer, Klaus Schöffling, Felix Semmelroth

 

Foto 2: © Jeannette Faure
v.l. Felix Semmelroth, Lothar Ruske, Wolfgang Schopf, Julia Ketterer, Klaus Schöffling

 

www.frankfurt-liest-ein-buch.de