kpm RoRoRo Cover Uber das Volksvermogen 72 dpiSerie: Exkurse in den literarischen Untergrund, Teil 1/3

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Kultur erweist ihre Relevanz in dem Maße, in der sie die Wirklichkeit reflektiert und dadurch Anstöße zur Veränderung gibt.

Die Frankfurter Kulturinitiative PRO LESEN versucht das zehnmal im Jahr mit ihren Veranstaltungen (Buchausstellung und Lesung plus Diskussion) im Bibliothekszentrum Frankfurt-Sachsenhausen. Der Titel der Themenwoche im Dezember („Über das Volksvermögen“) entsprach dem einer Gedichtsammlung von Peter Rühmkorf aus dem Jahr 1967, die seither viele Neuauflagen erlebt. Der Schriftsteller Peter Rühmkorf (1929 – 2008), Mitglied der „Gruppe 47“, war zeitlebens skeptisch gegenüber romantisierender Lyrik und Prosa. Viel lieber ist er den Wahrheiten des vom landläufigen Kulturbetrieb vernachlässigten poetischen Volksvermögens nachgegangen.

Die Sammlung dokumentiert die Ergebnisse vom Rühmkorfs Unterfangen, dem Volk objektiv aufs Maul zu schauen. Stehgreifverse von Kindern und Erwachsenen sowie Umdichtungen von bekannten Schlagern finden sich in dem Buch, mancher Texte erscheint vulgär, gar zotenähnlich, bildet aber eine Wirklichkeit ab, deren Realität von den jeweiligen Zeitgenossen bestätigt werden könnte. Einiges diente der Verdrängung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, anderes aber war Ausdruck des zumeist heimlichen Widerstands gegen das autoritäre Kaiserreich, die Nazi-Diktatur, die Weltkriege und gegen die restaurativen Bestrebungen in der Bundesrepublik.

Den Auftakt zur Lesung am 20. Dezember bildete ein aktuelles Durchhaltelied, das auf der Folie eines des Jahres 1942 neu getextet wurde:

Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei

Sie bauen bei Tag und bei Nacht
ihr Weltbild von völkischer Macht,
woll‘n ins braune Reich zurück,
manipulieren Stück für Stück.

Seh’n nicht, wohin sie die Welt zieh‘n,
nicht das Elend, dem Millionen entflieh‘n.
Denn der Rechte denkt nur an sich allein,
das darf unsre Sache nicht sein.

Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei,
Rassismus und Dummheit und Pöbelei.

Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei,
auch Alex Gauland und seine Partei.

Ja, es geht alles vorüber, aber man darf nicht den Lauf der Dinge abwarten, sondern muss einer gefährlichen politischen Entwicklung ins Steuerrad greifen und rechtzeitig gegensteuern. Dieser Idee waren und sind die Verse und Lieder verpflichtet, die der literarische Untergrund hervorbrachte und regelmäßig neu hervorbringt. Um einen Kontrast zum literarischen Schaffen zu ermöglichen, hat die Redaktion zusätzlich Gedichte von namhaften zeitgenössischen Schriftstellern ausgewählt. Dabei zeigte sich ein hoher Grad an inhaltlicher Übereinstimmung zwischen beiden Genres.

Buchausstellung und Vortragsabend fanden eine Woche vor Weihnachten statt. Das führte zu der Frage, ob man die Harmonie der Weihnachtszeit durch kritische und provozierende Gedichte stören dürfe? Die PRO LESEN-Redaktion war davon überzeugt, dass man es darf. Denn der legendäre Jesus hat stets polarisiert und wollte keinen Frieden mit den Selbstgerechten schließen.

Die so genannte Weihnachtsgeschichte kommt im Neuen Testament nur bei einem der vier Evangelisten vor, nämlich bei Lukas im 2. Kapitel. Diese Schrift lässt sich auf die Zeit zwischen 66 bis 70 unserer Zeitrechnung datieren, entstand mithin knapp 40 Jahre nach Jesu Tod. Wenn man in dieser „frohen Botschaft“ etwas weiter blättert, findet man Textstellen, welche die Harmonie von Bethlehem infrage zu stellen scheinen:

Zitat aus LUKAS 12, Verse 49 und 51:

„Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ (Lukas, Kapitel 12, Vers 49).

„Meint ihr, ich sei gekommen, um Friede auf die Erde zu bringen? Nein, sage ich euch! Nicht Frieden, sondern Spaltung.“ (Lukas, Kapitel 12, Vers 51).

Allem Anschein nach wollte Jesus polarisieren.

Der Schriftstelle Jean Anouilh hat diese Mutmaßungen über die eigentliche Bedeutung von Weihnachten in seinem „Lied vom verlorenen Jesuskind“ Ausdruck verliehen:

„Jesuskind, wo bist du? Du bist nicht mehr zu sehn... .Ich bin im Herzen der Armen, die ganz vergessen sind."

Ähnliches schrieb Erich Kästner in seiner 1922 erschienenen Umdichtung des Weihnachtslieds „Morgen, Kinder, wird's was geben!“:

Weihnachtslied, chemisch gereinigt

„Morgen, Kinder, wird's nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man's bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist's noch nicht soweit....“

Und noch etwas Weihnachtliches – diesmal aber jener Volkslyrik entstammend, der Peter Rühmkorf auf die Spur kam. Weihnachten war am Ende des Ersten Weltkriegs für den Durchschnittsdeutschen selten harmonisch, war kaum noch ein Familienfest. Die folgende Persiflage auf ein bekanntes Weihnachtslied ist bewusst sarkastisch angelegt und bietet wenig Anlass, auf bessere Zeiten zu hoffen. Im Ruhrgebiet sang man zu dieser Zeit diese Fassung eines bekannten Weihnachtslieds:

„O Tannenbaum! O Tannenbaum!
Der Kaiser hat in Sack gehaun.
Da kauft er sich ´nen Henkelmann
und fängt bei Krupp als Dreher an.
O Tannenbaum! O Tannenbaum!
Der Kaiser hat in Sack gehaun.

O Tannenbaum! O Tannenbaum!
Der Wilhelm hat in Sack gehaun.
Auguste muß Kartoffeln stehl´n,
der Kronprinz muß Granaten drehn.
O Tannenbaum! O Tannenbaum!
Der Wilhelm hat in Sack gehaun.“

Spätestens ab 1916 war vielen Menschen in Deutschland bewusst, dass der Krieg kein Spiel, sondern bitterer Ernst war, der für nicht wenige, vor allem für die Soldaten, die in den Stellungskriegen verheizt wurden, katastrophale Folgen hatte – also schwerste Verletzungen und Tod. Als im Verlauf des Krieges die Bevölkerung immer größeren Hunger litt, dichtete der Volksmund die Kaiserhymne um:

„Heil dir im Siegerkranz
Pellkartoffeln mit Heringsschwanz
Heil Kaiser dir.
Friss in des Thrones Glanz
Die fette Weihnachtsgans
Uns bleibt der Heringsschwanz
In Packpapier.“

Künstlerischer, also literarischer als der Volksmund, haben die Dichter den Weltkrieg beschrieben. Beispielsweise der Lyriker Georg von der Vring:

Der Mond von Flandern

„Nachtgesell der andern,
Die mit uns geschwebt,
Kamerad von Flandern,
Der im Klaren schwebt...“


Kurt Tucholsky schrieb 1922 ein Gedicht, das er Erich Ludendorff widmete. Hier die letzte Strophe:

Rote Melodie

„In dunkler Nacht,
wenn keiner wacht - :
dann steigen aus dem Graben
der Füselier,
der Musketier,
die keine Ruhe haben.
Das Totenbataillon entschwebt –
Haho! zu dem, der lebt.
Verschwommen, verschwommen
hörst du’s im Windgebraus.
Sie kommen! Sie kommen!
und wehen um sein Haus ...

General! General!
Wag es nur nicht noch einmal!
Es schrein die toten!
Denk an die Roten!
Sieh dich vor! Sieh dich vor!
Hör den unterirdischen Chor!
Wir rücken näher ran – du Knochenmann! -
im Schritt!
Komm mit - !“

Foto:
Umschlag des Buches
Peter Rühmkorf: Über das Volksvermögen
© Rowohlt Verlag

Info:
Die PRO LESEN-Themenwoche „Über das Volksvermögen“ ist auch dokumentiert in der Homepage des Vereins:
https://www.bruecke-unter-dem-main.de/themenwoche/