Elvira Grözinger
Berlin (Weltexpresso) - Das Buch über Sabina Spielrein ist vorläufig nur in englischer Sprache zu finden. Die amerikanische Autorin hat am Pacifica Graduate Institute, Summerland, Kalifornien in Mythologie promoviert. Sie untersucht in diesem Buch das Leben und Werk der Psychoanalytikerin Sabina Spielrein aus einem feministischen und mytho-poetischen Blickwinkel.
Außerhalb der mit Psychologie befassten und feministischen Kreise ist der Name Spielrein kaum bekannt, es wurde ihr zwar ein Roman gewidmet („Die russische Patientin von Bärbel Reetz, 2006), ein deutscher Dokumentarfilm (2002), ein italienischer/französischer/britischer Film über sie und Jung (2003) sowie der deutsch/kanadisch/britischer Film „Eine dunkle Begierde“ (A Dangerous Method, 2011) über den Konflikt zischen Freud und Jung, dennoch haben ihr diese keine breite Resonanz verschafft. Deswegen ist eine Einführung nötig, denn die Autorin setzt gute Vorkenntnisse voraus.
Sabina (Sheyve) Naftulowna Spielrein ist die erste Frau, die mit einer psychoanalytischen Arbeit promoviert wurde. Geboren 1885 im Russischen Rostow am Don als Tochter eines vermögenden jüdischen Kaufmanns und seiner Frau, einer Zahnärztin, die aus einer hasidischen Familie stammte, wuchs sie mit vier Geschwistern auf. 1904 bestand sie das Abitur mit Auszeichnung und wurde im gleichen Jahr mit der Diagnose „Hysterie“ sowie mit Verdacht auf Paranoia und Suizidgefährdung als Patientin in die Psychiatrische Klinik in Zürich und von dort in die Irrenheilanstalt Burghölzli eingewiesen.
Dort wurde sie auch von Carl Gustav Jung, dem Assistenten des Direktors Bleuler, behandelt. Jung war in der Klinik als seit zwei Jahren promovierter Arzt tätig. Seine Dissertation „Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene“ wies auf sein großes und anhaltendes Interesse für die Grenzwissenschaften hin. Damals 31 Jahre alt und frisch verheiratet, erzielte er schnell einen Heilungserfolg, soll aber mit der jungen Patientin ein Verhältnis gehabt haben. Jung, der als Begründer der analytischen Psychologie gilt, hat mit Freud, den er bis zum späteren Bruch zwischen ihnen als Freund und Mentor sehr schätzte, korrespondiert. In seinem Briefwechsel aus den Jahren 1907-1909 erwähnte Jung mehrfach ein sexuelles Interesse der „20 jährigen russischen Studentin“ an ihm, ihren Wunsch, von ihm ein Kind („Siegfried“, nach Wagners „Ring der Nibelungen“, den sie verehrte) zu haben und bezeichnete sie als hysterisch, ohne seine eigene Rolle dabei zuzugeben, was Freud als „Gegenübertragung“ beurteilte. Das bedeutet in der Psychoanalyse die Situation, in der der Therapeut seine eigenen Gefühle und Wünsche auf den Patienten oder die Patientin überträgt und seine professionelle Neutralität verliert.
Währenddessen hat sich Spielrein aus eigener Initiative an Freud gewandt. Freud und sie entwickelten ein Vertrauensverhältnis. Noch 1909 schrieb Jung an Freud über einen „wüsten Skandal“, den Spielrein ihm gemacht haben sollte, weil er sich weigerte, ihr ein Kind zu machen, und pathologisiert sie. Doch dieses nicht korrekte Verhältnis zwischen dem Therapeuten und seiner Patientin soll den Bruch mit seinem Lehrer und Klinikdirektor Paul Eugen Bleuler sowie das Ende seiner Karriere an der Züricher Universität, an der Bleuler Ordinarius war, verursacht haben. Jung zog dann mit seiner Familie nach Küsnacht und eröffnete eine Privatpraxis. Auch Freud verriet Spielrein später, dass das Verhältnis zwischen Jung und ihr auch zu seinem Bruch mit Jung in Jahre 1913 mit beigetragen hat, denn sein Glauben an das Immunsein des Arztes gegenüber dem Patienten wurde dadurch erschüttert.
Jung, der bis heute von seinen Anhängern verehrt wird, behält seinen unangreifbaren Nimbus, während Sabina Spielrein auch in der Fachliteratur zuweilen immer noch als die „Verrückte“, „Hysterikerin“ und „Verführerin“ ihres Arztes verunglimpft wird, wobei ihre eigenen bahnbrechenden Pionierstudien in der Psychologie negiert oder minimalisiert werden. Um diesem Zerrbild von Spielrein entgegen zu wirken und ihr als eigenständiger Frau, Ärztin und Wissenschaftlerin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hat Angela M. Sells ihr Buch diesen Aspekten ihres Lebens und Wirkens gewidmet: „Her (Spielrein’s) creative and intellectual inspiration led to a career, a life, and a legacy that is only now being fully discovered in academia.“ Und sie betrachtet den Gegenstand ihrer Untersuchung als „cisgendered figure, the terms female and woman are used in direct reference to a self-identified and suppressed woman in history”.
Sells weist darauf hin, dass Spielrein als der weibliche Aspekt der Jungschen Theorie der männlichen und der weiblichen Seele (anima und animus) von Jung betrachtet wurde. Zugleich sieht sie Spielrein als das Echo von Jung, nach „Echo und Narziss“ aus Ovids Metamorphosen. Spielrein wird auch anhand der mythologischen Gestalten in ihrem Werk nun als eine von dem idealisierten Angebeteten seelisch gequälte Frau dargestellt. Da Jung zahlreiche Verehrerinnen auch unter seinen Patientinnen hatte sowie auch später im Leben neben seiner Ehefrau weitere Frauen eine Rolle spielten, litt die verliebte Sabina Spielrein als Beobachterin. Sie tröstete sich zuweilen damit, dass es auch diesen Frauen nicht besser ergehen würde als ihr.
Bereits im Frühjahr 1905 nahm Spielrein ein Studium der Medizin an der Universität Zürich auf. Ab 1908/9 hat sich ihre freundschaftliche Beziehung welcher Art auch immer zu Jung vertieft. 1911 promovierte sie in Zürich bei Bleuler und Jung als erste Frau mit einem psychoanalytischen Thema zum Dr. med. mit der Dissertation „Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie“, welche in dem von Jung herausgegebenen Jahrbuch der Psychoanalyse veröffentlicht wurde. Es war die erste wissenschaftliche Studie zur Schizophrenie. Im selben Jahr verließ sie Zürich, reiste nach München, wo sie kurz Kunstgeschichte studierte und nach Wien, wo sie Freud persönlich kennen lernte. Dort wurde sie in die von Freund 1902 gegründete und seit 1908 so genannte Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen und nahm an deren Mittwochgesellschaften teil.
1912 heiratete Spielrein den russisch-jüdischen Arzt Pawel Naumowitsch Scheftel in Rostow am Don, 1913 wurde ihre erste Tochter in Berlin geboren, wo Spielrein bei Karl Abraham arbeitete und neun Aufsätze veröffentlichte. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs reiste die Familie in die Schweiz aber Spielreins Mann verließ sie, um in der russischen Armee zu dienen. Sabina Spielrein lebte fortan in schwierigen materiellen Verhältnissen mit der Tochter von 1915 bis 1921 in Lausanne, arbeitete etwas in der Augenchirurgie und bekam gelegentlich Zuwendungen von den Eltern. Sie publizierte weitere Studien in psychoanalytischen Zeitschriften. Im Jahre 1921 machte Jean Piaget in Genf, der von 1929 bis 1954 als Professor für Psychologie lehrte, bei ihr seine Psychoanalyse. Spielrein war dann drei Jahre lang am Genfer Jean-Jaques-Rousseau-Institut tätig, einer Pionierinstitution für Kindespsychologie, und kehrte 1923 mit ihrer Tochter in die - nunmehr - Sowjetunion zurück, um dort die Entwicklung der Psychoanalyse voranzutreiben. Leo Trotzki unterstützte die neue Wissenschaft, so dass Spielrein Mitglied der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung werden konnte.
Spielrein und ihr Mann lebten nun nach vielen Jahren wieder zusammen und sie brachte im Alter von 41 Jahren ihre zweite Tochter zur Welt. Aber als Lenin 1924 starb, fiel auch Trotzki bei Stalin in Ungnade und musste ins Exil gehen. 1940 wurde er bekanntlich in Mexiko von einem sowjetischen Agenten ermordet und die Psychoanalyse war in der Sowjetunion seit 1936 auf dem Index. Spielrein musste sich erneut anderweitig orientieren, arbeitete wieder als Ärztin und Pädologin, publizierte jedoch weiter in psychoanalytischen Zeitschriften.
Spielrein hatte in all den Jahren über den Todestrieb, die Seele des Kindes, die Ursprünge der Sprache, über weibliche Sexualität und über sexuelle Perversionen wie den Voyeurismus und Exhibitionismus, usw. geforscht und geschrieben. Ihre Theorie des Sexualtriebs lautet, dass er aus zwei Komponenten besteht, dem das Individuum schützenden Selbsterhaltungs- und dem Arterhaltungstrieb. Allerdings muss das „Selbst“, welches sowohl einen Lebens- als auch Todesinstinkt besitzt, erst zerstört werden, um neues Leben zu schaffen. Dieser Gedanke, dass die Liebe sich erst im Tod gänzlich erfüllt, findet sich in ihrer Schrift „Die Destruktion als Ursache des Werdens“ von 1912. Sie beschrieb darin den Todeswunsch als Teil der Libido und den Fortpflanzungstrieb als etwas zugleich Ekelerregendes und Angstauslösendes, welches erst überwunden werden muss. Aus ihren gegensätzlichen Komponenten entwickelte Freud seine Theorie des Todestriebs als Gegenpol zum Lebenstrieb („Eros und Thanatos“). Sie war somit nicht nur die Schülerin von Jung und Freud, sondern auch als ihre Fachkollegin zuweilen zugleich ihre Lehrerin. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie das Konzept der Nichtung vor Neuwerdung aus dem Hasidismus bezog, ihrem genetischen Erbe. Im osteuropäischen Hasidismus ist es die meditative Destruktion der Welt, die als Mittel zur Rückkehr in das Nichts Gottes dient, was die Voraussetzung für neues Werden ist. Der Hasid ist bei seiner meditativen Nichtung der Welt ein Partner Gottes in der Neuschöpfung. Spielrein interessierte sich auch für die Kabbala so wie Jung für die Mythologie, aus denen beide in ihrer Arbeit schöpften.
Spielrein gegenüber hat Freud in Jung bereist früh einen judenfeindlichen Germanen vermutet. Der nun durch die Nationalsozialisten im Nachbarland von Spielrein und anderen Juden sowie von der „zersetzenden“ Psychoanalyse Freuds befreite Therapeut Jung genierte sich nicht, in dem von ihm 1934 als Redakteur übernommenen Zentralblatt für Psychotherapie zu schreiben: Es sei, so schrieb Jung dort, ein "schwerer Fehler" der Psychotherapie gewesen, daß sie "jüdische Kategorien ... unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte". Die jüdische Psychologie habe die germanische Seele zu einem "Kehrichtkübel" degradiert. Freuds Psychoanalyse sei "zerfasernd", "entwertend", "unterminierend", kurz: eine "obszöne Witzpsychologie" und er ging weiter: „Der Jude als relativer Nomade hat nie und wird voraussichtlich auch nie eine eigene Kulturform schaffen, da alle seine Instinkte und Begabungen ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk zu seiner Entfaltung voraussetzen. Der arische Unbewusste hat ein höheres Potential als das jüdische [Unbewusste ...]“ Kommt es dem Leser bekannt vor? Ja, der Lieblingskomponist Spielreins, Richard Wagner, lässt grüßen. In seinem judenfeindlichen Pamphlet Das Judenthum in der Musik, das er 1850 während seines Aufenthalts in Zürich schrieb, beschrieb Wagner „den Juden“ an sich als „unfähig, durch seine äußere Erscheinung, seine Sprache, am allerwenigsten aber durch seinen Gesang, sich uns künstlerisch kundzugeben“, er könne „nur nachsprechen“ oder „nachkünsteln“[...]. Allerdings leugnete Jung kurz nach dem Ende des „Dritten Reiches“ dies geschrieben zu haben.
Während der sieben Tage, in denen die Wehrmacht im November 1941 Rostow am Don besetzt hielt, wurden etwa tausend Juden umgebracht. Sabina Spielrein und ihre beiden Töchter wurden ermordet, als die Deutschen nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juli 1942 ihre Heimatstadt zum zweiten Mal eingenommen haben. Bereits Anfang August 1942 wurden etwa 25.000 Juden in einem Schulgebäude versammelt und zur Zmijowskaja Balka (Schlangenschlucht) getrieben, mussten sich nackt ausziehen und wurden von Sonderkommandos und von Einheiten der Einsatzgruppe D erschossen. Am folgenden Tag schrieb die von den Deutschen herausgegebene Zeitung Golos Rostowa: „Die Luft ist gereinigt...“ (so bei Wassilij Grossmann/Ilja Ehrenburg). Sabina Spielreins Brüder waren in den Jahren 1935 bis 1937 im Rahmen der großen „Säuberungen“ verschwunden, vermutlich in Lagern des Gulag. Sie wurden 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU unter Nikita Chruschtschow rehabilitiert. Im Jahre 2002 wurde in Rostow an ihrem Wohnhaus eine Gedenktafel angebracht und in der Schlucht eine Eiche für sie gepflanzt.
Während andere Biographen und Forscher bei Spielrein auch eine durchaus positive Sicht ihres Verhältnisses zu Jung gefunden zu haben meinen, stellt Sells diese als traumatisch dar, sie bezieht sich dabei auf Spielreins Tagebücher und Briefe: „Überhaupt brachte mir meine Liebe fast lauter Schmerz, es waren nur einzelne Augenblicke, da ich an seiner Brust ruhte, in welchen ich alles vergessen konnte.“ Für Sells ist Spielrein eine bis heute unterschätzte, ja, ungerecht behandelte Gestalt als „Irre“, Frau und Jüdin. Sells interpretiert ihr Leben und Werk, indem sie mythologische, literarische, mystische (symbolische) Elemente sowie psychosoziale Aspekte in Betracht zieht. Die bei zahlreichen Autoren vorhandene Vorstellung von Spielreins „Wahnsinn“ sieht sie als einen, spezifisch dem weiblichen Geschlecht angedichteter „Wahnsinn“. Auf der Suche nach Spielreins wahrem Wesen verliert sich die Autorin allerdings in dem Dickicht der Sekundärliteratur, die sie, soll sie von Spielrein handeln, mehrheitlich kritisch ablehnt und der sie widerspricht. Sie zieht auch zahlreiche Beispiele feministischer Literatur heran, um die Benachteiligung Spielreins als Forscherin zu belegen. Dabei ergeben sich Redundanzen und die Systematik der Analyse bleibt gelegentlich auf der Strecke. Hier wäre ein Lektorat hilfreich gewesen. Das ist bedauerlich, denn das Buch von Sells bietet Alternativen zu der vornehmlich negativen Rezeption Spielreins und öffnet neue und unbekannte Sichtweisen auf diese originelle und vielseitig gebildete Forscherin.
Das Buch enthält Appendices mit den Lebensdaten, Auszügen aus Spielreins Schriften und Illustrationen, einen Anmerkungsapparat und eine umfassende Bibliographie. Eine deutsche Übersetzung wäre nach einer Lektorierung wünschenswert.
Foto:
© Cover
Info:
Angela M. Sells, Sabina Spielrein, The Woman and the Myth, State University of New York Press, Albany, 2017, 283 S.
Elvira Grözinger, Dr. phil., ist Literaturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie lebt in Berlin.
Währenddessen hat sich Spielrein aus eigener Initiative an Freud gewandt. Freud und sie entwickelten ein Vertrauensverhältnis. Noch 1909 schrieb Jung an Freud über einen „wüsten Skandal“, den Spielrein ihm gemacht haben sollte, weil er sich weigerte, ihr ein Kind zu machen, und pathologisiert sie. Doch dieses nicht korrekte Verhältnis zwischen dem Therapeuten und seiner Patientin soll den Bruch mit seinem Lehrer und Klinikdirektor Paul Eugen Bleuler sowie das Ende seiner Karriere an der Züricher Universität, an der Bleuler Ordinarius war, verursacht haben. Jung zog dann mit seiner Familie nach Küsnacht und eröffnete eine Privatpraxis. Auch Freud verriet Spielrein später, dass das Verhältnis zwischen Jung und ihr auch zu seinem Bruch mit Jung in Jahre 1913 mit beigetragen hat, denn sein Glauben an das Immunsein des Arztes gegenüber dem Patienten wurde dadurch erschüttert.
Jung, der bis heute von seinen Anhängern verehrt wird, behält seinen unangreifbaren Nimbus, während Sabina Spielrein auch in der Fachliteratur zuweilen immer noch als die „Verrückte“, „Hysterikerin“ und „Verführerin“ ihres Arztes verunglimpft wird, wobei ihre eigenen bahnbrechenden Pionierstudien in der Psychologie negiert oder minimalisiert werden. Um diesem Zerrbild von Spielrein entgegen zu wirken und ihr als eigenständiger Frau, Ärztin und Wissenschaftlerin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hat Angela M. Sells ihr Buch diesen Aspekten ihres Lebens und Wirkens gewidmet: „Her (Spielrein’s) creative and intellectual inspiration led to a career, a life, and a legacy that is only now being fully discovered in academia.“ Und sie betrachtet den Gegenstand ihrer Untersuchung als „cisgendered figure, the terms female and woman are used in direct reference to a self-identified and suppressed woman in history”.
Sells weist darauf hin, dass Spielrein als der weibliche Aspekt der Jungschen Theorie der männlichen und der weiblichen Seele (anima und animus) von Jung betrachtet wurde. Zugleich sieht sie Spielrein als das Echo von Jung, nach „Echo und Narziss“ aus Ovids Metamorphosen. Spielrein wird auch anhand der mythologischen Gestalten in ihrem Werk nun als eine von dem idealisierten Angebeteten seelisch gequälte Frau dargestellt. Da Jung zahlreiche Verehrerinnen auch unter seinen Patientinnen hatte sowie auch später im Leben neben seiner Ehefrau weitere Frauen eine Rolle spielten, litt die verliebte Sabina Spielrein als Beobachterin. Sie tröstete sich zuweilen damit, dass es auch diesen Frauen nicht besser ergehen würde als ihr.
Bereits im Frühjahr 1905 nahm Spielrein ein Studium der Medizin an der Universität Zürich auf. Ab 1908/9 hat sich ihre freundschaftliche Beziehung welcher Art auch immer zu Jung vertieft. 1911 promovierte sie in Zürich bei Bleuler und Jung als erste Frau mit einem psychoanalytischen Thema zum Dr. med. mit der Dissertation „Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie“, welche in dem von Jung herausgegebenen Jahrbuch der Psychoanalyse veröffentlicht wurde. Es war die erste wissenschaftliche Studie zur Schizophrenie. Im selben Jahr verließ sie Zürich, reiste nach München, wo sie kurz Kunstgeschichte studierte und nach Wien, wo sie Freud persönlich kennen lernte. Dort wurde sie in die von Freund 1902 gegründete und seit 1908 so genannte Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen und nahm an deren Mittwochgesellschaften teil.
1912 heiratete Spielrein den russisch-jüdischen Arzt Pawel Naumowitsch Scheftel in Rostow am Don, 1913 wurde ihre erste Tochter in Berlin geboren, wo Spielrein bei Karl Abraham arbeitete und neun Aufsätze veröffentlichte. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs reiste die Familie in die Schweiz aber Spielreins Mann verließ sie, um in der russischen Armee zu dienen. Sabina Spielrein lebte fortan in schwierigen materiellen Verhältnissen mit der Tochter von 1915 bis 1921 in Lausanne, arbeitete etwas in der Augenchirurgie und bekam gelegentlich Zuwendungen von den Eltern. Sie publizierte weitere Studien in psychoanalytischen Zeitschriften. Im Jahre 1921 machte Jean Piaget in Genf, der von 1929 bis 1954 als Professor für Psychologie lehrte, bei ihr seine Psychoanalyse. Spielrein war dann drei Jahre lang am Genfer Jean-Jaques-Rousseau-Institut tätig, einer Pionierinstitution für Kindespsychologie, und kehrte 1923 mit ihrer Tochter in die - nunmehr - Sowjetunion zurück, um dort die Entwicklung der Psychoanalyse voranzutreiben. Leo Trotzki unterstützte die neue Wissenschaft, so dass Spielrein Mitglied der Russischen Psychoanalytischen Vereinigung werden konnte.
Spielrein und ihr Mann lebten nun nach vielen Jahren wieder zusammen und sie brachte im Alter von 41 Jahren ihre zweite Tochter zur Welt. Aber als Lenin 1924 starb, fiel auch Trotzki bei Stalin in Ungnade und musste ins Exil gehen. 1940 wurde er bekanntlich in Mexiko von einem sowjetischen Agenten ermordet und die Psychoanalyse war in der Sowjetunion seit 1936 auf dem Index. Spielrein musste sich erneut anderweitig orientieren, arbeitete wieder als Ärztin und Pädologin, publizierte jedoch weiter in psychoanalytischen Zeitschriften.
Spielrein hatte in all den Jahren über den Todestrieb, die Seele des Kindes, die Ursprünge der Sprache, über weibliche Sexualität und über sexuelle Perversionen wie den Voyeurismus und Exhibitionismus, usw. geforscht und geschrieben. Ihre Theorie des Sexualtriebs lautet, dass er aus zwei Komponenten besteht, dem das Individuum schützenden Selbsterhaltungs- und dem Arterhaltungstrieb. Allerdings muss das „Selbst“, welches sowohl einen Lebens- als auch Todesinstinkt besitzt, erst zerstört werden, um neues Leben zu schaffen. Dieser Gedanke, dass die Liebe sich erst im Tod gänzlich erfüllt, findet sich in ihrer Schrift „Die Destruktion als Ursache des Werdens“ von 1912. Sie beschrieb darin den Todeswunsch als Teil der Libido und den Fortpflanzungstrieb als etwas zugleich Ekelerregendes und Angstauslösendes, welches erst überwunden werden muss. Aus ihren gegensätzlichen Komponenten entwickelte Freud seine Theorie des Todestriebs als Gegenpol zum Lebenstrieb („Eros und Thanatos“). Sie war somit nicht nur die Schülerin von Jung und Freud, sondern auch als ihre Fachkollegin zuweilen zugleich ihre Lehrerin. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie das Konzept der Nichtung vor Neuwerdung aus dem Hasidismus bezog, ihrem genetischen Erbe. Im osteuropäischen Hasidismus ist es die meditative Destruktion der Welt, die als Mittel zur Rückkehr in das Nichts Gottes dient, was die Voraussetzung für neues Werden ist. Der Hasid ist bei seiner meditativen Nichtung der Welt ein Partner Gottes in der Neuschöpfung. Spielrein interessierte sich auch für die Kabbala so wie Jung für die Mythologie, aus denen beide in ihrer Arbeit schöpften.
Spielrein gegenüber hat Freud in Jung bereist früh einen judenfeindlichen Germanen vermutet. Der nun durch die Nationalsozialisten im Nachbarland von Spielrein und anderen Juden sowie von der „zersetzenden“ Psychoanalyse Freuds befreite Therapeut Jung genierte sich nicht, in dem von ihm 1934 als Redakteur übernommenen Zentralblatt für Psychotherapie zu schreiben: Es sei, so schrieb Jung dort, ein "schwerer Fehler" der Psychotherapie gewesen, daß sie "jüdische Kategorien ... unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte". Die jüdische Psychologie habe die germanische Seele zu einem "Kehrichtkübel" degradiert. Freuds Psychoanalyse sei "zerfasernd", "entwertend", "unterminierend", kurz: eine "obszöne Witzpsychologie" und er ging weiter: „Der Jude als relativer Nomade hat nie und wird voraussichtlich auch nie eine eigene Kulturform schaffen, da alle seine Instinkte und Begabungen ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk zu seiner Entfaltung voraussetzen. Der arische Unbewusste hat ein höheres Potential als das jüdische [Unbewusste ...]“ Kommt es dem Leser bekannt vor? Ja, der Lieblingskomponist Spielreins, Richard Wagner, lässt grüßen. In seinem judenfeindlichen Pamphlet Das Judenthum in der Musik, das er 1850 während seines Aufenthalts in Zürich schrieb, beschrieb Wagner „den Juden“ an sich als „unfähig, durch seine äußere Erscheinung, seine Sprache, am allerwenigsten aber durch seinen Gesang, sich uns künstlerisch kundzugeben“, er könne „nur nachsprechen“ oder „nachkünsteln“[...]. Allerdings leugnete Jung kurz nach dem Ende des „Dritten Reiches“ dies geschrieben zu haben.
Während der sieben Tage, in denen die Wehrmacht im November 1941 Rostow am Don besetzt hielt, wurden etwa tausend Juden umgebracht. Sabina Spielrein und ihre beiden Töchter wurden ermordet, als die Deutschen nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juli 1942 ihre Heimatstadt zum zweiten Mal eingenommen haben. Bereits Anfang August 1942 wurden etwa 25.000 Juden in einem Schulgebäude versammelt und zur Zmijowskaja Balka (Schlangenschlucht) getrieben, mussten sich nackt ausziehen und wurden von Sonderkommandos und von Einheiten der Einsatzgruppe D erschossen. Am folgenden Tag schrieb die von den Deutschen herausgegebene Zeitung Golos Rostowa: „Die Luft ist gereinigt...“ (so bei Wassilij Grossmann/Ilja Ehrenburg). Sabina Spielreins Brüder waren in den Jahren 1935 bis 1937 im Rahmen der großen „Säuberungen“ verschwunden, vermutlich in Lagern des Gulag. Sie wurden 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU unter Nikita Chruschtschow rehabilitiert. Im Jahre 2002 wurde in Rostow an ihrem Wohnhaus eine Gedenktafel angebracht und in der Schlucht eine Eiche für sie gepflanzt.
Während andere Biographen und Forscher bei Spielrein auch eine durchaus positive Sicht ihres Verhältnisses zu Jung gefunden zu haben meinen, stellt Sells diese als traumatisch dar, sie bezieht sich dabei auf Spielreins Tagebücher und Briefe: „Überhaupt brachte mir meine Liebe fast lauter Schmerz, es waren nur einzelne Augenblicke, da ich an seiner Brust ruhte, in welchen ich alles vergessen konnte.“ Für Sells ist Spielrein eine bis heute unterschätzte, ja, ungerecht behandelte Gestalt als „Irre“, Frau und Jüdin. Sells interpretiert ihr Leben und Werk, indem sie mythologische, literarische, mystische (symbolische) Elemente sowie psychosoziale Aspekte in Betracht zieht. Die bei zahlreichen Autoren vorhandene Vorstellung von Spielreins „Wahnsinn“ sieht sie als einen, spezifisch dem weiblichen Geschlecht angedichteter „Wahnsinn“. Auf der Suche nach Spielreins wahrem Wesen verliert sich die Autorin allerdings in dem Dickicht der Sekundärliteratur, die sie, soll sie von Spielrein handeln, mehrheitlich kritisch ablehnt und der sie widerspricht. Sie zieht auch zahlreiche Beispiele feministischer Literatur heran, um die Benachteiligung Spielreins als Forscherin zu belegen. Dabei ergeben sich Redundanzen und die Systematik der Analyse bleibt gelegentlich auf der Strecke. Hier wäre ein Lektorat hilfreich gewesen. Das ist bedauerlich, denn das Buch von Sells bietet Alternativen zu der vornehmlich negativen Rezeption Spielreins und öffnet neue und unbekannte Sichtweisen auf diese originelle und vielseitig gebildete Forscherin.
Das Buch enthält Appendices mit den Lebensdaten, Auszügen aus Spielreins Schriften und Illustrationen, einen Anmerkungsapparat und eine umfassende Bibliographie. Eine deutsche Übersetzung wäre nach einer Lektorierung wünschenswert.
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Info:
Angela M. Sells, Sabina Spielrein, The Woman and the Myth, State University of New York Press, Albany, 2017, 283 S.
Elvira Grözinger, Dr. phil., ist Literaturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie lebt in Berlin.