nt Bild 1 OSTDer „Franzosenfriedhof“ in Meschede

Nadja Thelen-Khoder

Siegen (Weltexpresso) - Wenige Monate vor ihrem Tod erzählte mir meine Mutter vom Langenbachtal. Daß sie ihrem Vater, dem Warsteiner Arzt Dr. Segin, oft geholfen habe, die eiternden Geschwüre der russischen Zwangsarbeiter „auszuschaben“, hatte sie schon oft erzählt; aber daß 71 von ihnen wenige Tage vor Kriegsende im Langenbachtal ermordet wurden, nicht.

Ein „Franzosenfriedhof“ ohne Franzosen, teils nicht mehr lesbare Grabsteine ohne Geburts- und Sterbedaten und vermooste, verwitterte und gebrochene Steine mit verharmlosenden Texten – so fand ich den Mescheder Waldfriedhof im Herbst 2015 vor, als ich mich auf die Spurensuche begab.


nt Bild 2 27Neben den namenlos Begrabenen der drei nächtlichen Massaker deutscher Soldaten am 20.3.1945 im Langenbachtal (Warstein), 21.3.1945 im Körtlinghausener Forst (Suttrop) und 22.3.1945 auf der Flur „Im Kramwinkel“ (Eversberg) bezeugen 32 Grabsteine 71 weitere Zwangsarbeiter, die in zig Lagern in und um Meschede leben mußten und 1942 – 1945 „verstorben“ sind: in Stockhausen „nach kompl. Unterschenkelbruch“, in Meschede im „Ostarbeiterlager Waldstr.“ an „Krämpfen“ oder im „Ostarbeiterlager Haus Dortmund“ oder „im Ostarbeiterlager Wiebelhaus“ oder „wohnhaft in Walze, Ostarbeiterinnenlager“ oder „im Ostarbeiterlager der Honsel-Werke“ oder in Bestwig „im Ostarbeiterlager“ oder in Bigge im „Lager Talblick“ oder in Heinrichsthal „im Ostarbeiterlager“ oder „in Ramsbeck“ oder in „Hoppecke im Lager Bremecke“ oder „in Dörnbeck bei Ramsbeck im Ostarbeiterlager“ „an einer „Kopfverletzung“, an einer „Benzinvergiftung“, „Tuberkulose, Hüftgelenksentzündung“, an „Hitzschlag, Lungenentzündung, Herzschwäche“, an einer „schweren Beinverletzung“, an „Flecktyphus“ (= „Lagerfieber“), an „Lungentuberkulose“, an „Schwere Lungentuberkulose, allgemeine Entkräftung, Versagen des Kreislaufs“, an „Doppelseitige Lungentuberkulose“ oder „Schädelbruch“, „auf der Flucht erschossen“ oder durch „Freitod“.


nt Bild 3 Twitalka Stadnik und Anna TscherewkoLange habe ich geglaubt, daß alle Unterlagen vernichtet worden seien – durch den Krieg, durch Unachtsamkeit, aus Not oder willentlich von Menschen, die daran ein Interesse hatten. Aber je länger ich nach Namen suchte, desto mehr Listen begegneten mir: von Arbeitsämtern, Polizeidienststellen, Krankenhäusern, Arbeitgebern, Krankenkassen, Bürgermeistern, vom Oberstaatsanwalt in Arnsberg, vom Städtischen Gesundheitsamt Meschede und und und. Durch sie und die Sterbeurkunden in den Stadtarchiven verwandelten sich Zahlen in Menschen aus Fleisch und Blut.“

3 500 000 Bürger der ehemaligen Sowjetunion sind in deutscher Gefangenschaft gestorben. Niemand kann sich diese Zahl vorstellen. Aber durch den Grabstein von Valentina und Nina Woronina etwa rufen drei Menschen nach uns: Nina (21), ihre Tochter Valentina (10 Wochen) und ihr Mann Michail Woronin (22), der nach seiner Befreiung ins „Reserve Lazarett Warstein“ kam und dort an „Lungentuberkulose“ starb, wie all die anderen, für die auf dem Friedhof der LWL-Klinik auch eine Stele steht.



nt Bild 4 Nina und Valentina WoroninaUnd auch zu den Ermordeten der drei Massaker gibt es Papiere, Lohnabrechnungen und andere Gegenstände; das belegen eine Eidesstattliche Erklärung des Suttroper Bürgermeisters vom 7.9.1946 (Dokument 2.2.0.1 / 82413822 im ITS in Bad Arolsen), die Exhumierungsberichte von 1947 in Eversberg [von Dr. Petrasch vom 28./29.3.1947, Dokumente 2.2.0.1 / 82416675 (2 Seiten) und 82416678 (1 Seite) und vom Amtsdirektor „betr. Massengrab auf der Eversberger Flur bei Meschede“ am 31.3.1947, 2.2.0.1 / 82416677 (2 Seiten)], unddie Umbettungsprotokolle des „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. vom 10.8.1964 über die 71 Ermordeten vom Langenbachtal.

[Im Dezember 2018 sind bei aktuellen Grabungen durch Archäologen des „Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL)“ im Langenbachtal weitere Gegenstände gefunden worden.]


nt Bild 5 Stele im September 2017Dieses Buch will Grundlage sein für weitere Recherchen vor Ort. Wie schön wäre es, wenn z.B. Schüler im Geschichtsunterricht weiter nach Toten und Ermordeten suchen könnten, um ihnen ihre Würde wiederzugeben. Die Listen aus zig Lagern in und um Meschede und Warstein sind lang [einige im Buch, einige im Internet (siehe Anmerkungen)], und gemeinsam können wir noch so viel finden!


Seit Jahrzehnten hat mich „der Nationalsozialismus“ interessiert – wie er funktionierte und was er bedeutet, habe ich erst durch die Suche nach den Toten gelernt. Diese Arbeit hat mich stark geprägt, und diese Erfahrung würde ich gern mit Schülern teilen. Gemeinsame Klassenfahrten von Arnsberg (Arnsberger Prozeß von 1957/8) über Meschede („Franzosenfriedhof“), Eversberg, Warstein, Suttrop, Rüthen (Dokument zu einem Todesmarsch im Buch) über die Wewelsburg zum ITS nach Bad Arolsen sind mein Traum (3), denn Zahlen fühlen sich anders an, wenn sie zu Menschen mit Haut und Haaren geworden sind (4)!





Foto:
Bild 1 („OST“) mit der Bildunterschrift „Kennzeichnung ,OST’ für Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion“ (Bilddatensatz von Doc.Heintz – Lizenziert unter CC BY-SA 3.0)“
Bild 2 mit der Bildunterschrift „,HIER RUHEN 27 SOWJETISCHE BÜRGER, DIE IN DER SCHWEREN ZEIT 1941 – 1945 FERN VON IHRER HEIMAT STARBEN’, Photo vom September 2017“
Bild 3 mit der Bildunterschrift „Grabstein von Twitalka Stadnik und Anna Tscherewko, Photo vom September 2017“
Bild 4 mit der Bildunterschrift „Grabstein von Nina undValentina Woroniona, Photo vom September 2017“
Bild 5 mit der Bildunterschrift „Die von drei Seiten auf Russisch, Englisch und Deutsch beschriftete Stele, Photo vom September 2017“

Anmerkungen:
http://hpgrumpe.de/ns_verbrechen_an_zwangsarbeitern_suttrop,_warstein,_meschede/index.html
https://www.schiebener.net/wordpress/franzosenfriedhof/
https://www.schiebener.net/wordpress/ein-grabstein-erzaehlt-teil-3-und-schluss-ich-habe-einen-traum/ und https://www.schiebener.net/wordpress/beklemmende-spurensuche-wie-schoen-waere-es-wenn-wir-gemeinsam-nach-den-ermordeten-im-its-in-bad-arolsen-suchen-koennten/
„Kurzgeschichten mit Bildern für den Geschichtsunterricht“ auf http://www.afz-ethnos.org/index.php/bildung/138-friedensprojekt-von-nadja-thelen-khoder-kurzgeschichten-fuer-den-geschichtsunterricht

Info:
Nadja Thelen-Khoder

Der „Franzosenfriedhof“ in Meschede
Drei Massaker, zwei Gedenksteine, eine „Gedenktafel“ und 32 Grabsteine. Dokumentation einer Spurensuche