Nadja Thelen-Khoder
Siegen (Weltexpresso) - Wenige Monate vor ihrem Tod erzählte mir meine Mutter vom Langenbachtal. Daß sie ihrem Vater, dem Warsteiner Arzt Dr. Segin, oft geholfen habe, die eiternden Geschwüre der russischen Zwangsarbeiter „auszuschaben“, hatte sie schon oft erzählt; aber daß 71 von ihnen wenige Tage vor Kriegsende im Langenbachtal ermordet wurden, nicht.
Ein „Franzosenfriedhof“ ohne Franzosen, teils nicht mehr lesbare Grabsteine ohne Geburts- und Sterbedaten und vermooste, verwitterte und gebrochene Steine mit verharmlosenden Texten – so fand ich den Mescheder Waldfriedhof im Herbst 2015 vor, als ich mich auf die Spurensuche begab.
3 500 000 Bürger der ehemaligen Sowjetunion sind in deutscher Gefangenschaft gestorben. Niemand kann sich diese Zahl vorstellen. Aber durch den Grabstein von Valentina und Nina Woronina etwa rufen drei Menschen nach uns: Nina (21), ihre Tochter Valentina (10 Wochen) und ihr Mann Michail Woronin (22), der nach seiner Befreiung ins „Reserve Lazarett Warstein“ kam und dort an „Lungentuberkulose“ starb, wie all die anderen, für die auf dem Friedhof der LWL-Klinik auch eine Stele steht.
[Im Dezember 2018 sind bei aktuellen Grabungen durch Archäologen des „Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL)“ im Langenbachtal weitere Gegenstände gefunden worden.]
Seit Jahrzehnten hat mich „der Nationalsozialismus“ interessiert – wie er funktionierte und was er bedeutet, habe ich erst durch die Suche nach den Toten gelernt. Diese Arbeit hat mich stark geprägt, und diese Erfahrung würde ich gern mit Schülern teilen. Gemeinsame Klassenfahrten von Arnsberg (Arnsberger Prozeß von 1957/8) über Meschede („Franzosenfriedhof“), Eversberg, Warstein, Suttrop, Rüthen (Dokument zu einem Todesmarsch im Buch) über die Wewelsburg zum ITS nach Bad Arolsen sind mein Traum (3), denn Zahlen fühlen sich anders an, wenn sie zu Menschen mit Haut und Haaren geworden sind (4)!
Foto:
Bild 1 („OST“) mit der Bildunterschrift „Kennzeichnung ,OST’ für Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion“ (Bilddatensatz von Doc.Heintz – Lizenziert unter CC BY-SA 3.0)“
Bild 2 mit der Bildunterschrift „,HIER RUHEN 27 SOWJETISCHE BÜRGER, DIE IN DER SCHWEREN ZEIT 1941 – 1945 FERN VON IHRER HEIMAT STARBEN’, Photo vom September 2017“
Bild 3 mit der Bildunterschrift „Grabstein von Twitalka Stadnik und Anna Tscherewko, Photo vom September 2017“
Bild 4 mit der Bildunterschrift „Grabstein von Nina undValentina Woroniona, Photo vom September 2017“
Bild 5 mit der Bildunterschrift „Die von drei Seiten auf Russisch, Englisch und Deutsch beschriftete Stele, Photo vom September 2017“
Anmerkungen:
http://hpgrumpe.de/ns_verbrechen_an_zwangsarbeitern_suttrop,_warstein,_meschede/index.html
https://www.schiebener.net/wordpress/franzosenfriedhof/
https://www.schiebener.net/wordpress/ein-grabstein-erzaehlt-teil-3-und-schluss-ich-habe-einen-traum/ und https://www.schiebener.net/wordpress/beklemmende-spurensuche-wie-schoen-waere-es-wenn-wir-gemeinsam-nach-den-ermordeten-im-its-in-bad-arolsen-suchen-koennten/
„Kurzgeschichten mit Bildern für den Geschichtsunterricht“ auf http://www.afz-ethnos.org/index.php/bildung/138-friedensprojekt-von-nadja-thelen-khoder-kurzgeschichten-fuer-den-geschichtsunterricht
Info:
Nadja Thelen-Khoder
Der „Franzosenfriedhof“ in Meschede
Drei Massaker, zwei Gedenksteine, eine „Gedenktafel“ und 32 Grabsteine. Dokumentation einer Spurensuche