Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 7
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Andreas Maier, selbst Suhrkamp-Autor und hier beheimatet - seine plastikgelbe Weste wies ihn als Flughafen-Lärmprotestler aus -, hatte dann mit Ginsters Rückstellung zu tun und mit allerhand Widrigkeiten des Lebens, die direkt einmünden in die Anstellung Ginsters beim Architekten Valentin in F., ein Kapitel, das Schauspieler und Hessischexperte Michel Quast lesen durfte.
Das muß man so sagen, weil die Passagen um Ausschreibung der Errichtung eines Ehrenfriedhofes vielleicht das funkelndste Glanzstück des ganzen Romans sind, wo das Sujet Friedhof + Ehre architektonisch hinterfragt zu den absurdesten Planungsüberlegungen führt und einem beim Lesen das Lachen gefriert. Michael Quast brachte das Kracauersche Kabinettsstückchen auch adäquat unter die Leute. Sein Valentin verfiel ins Frankforterische, aber nichts ins Derbe, Volkstümliche, sondern ins elegante, wenn ein Frankfurter Hochdeutsch sprechen will. Das steht zwar nicht so bei Kracauer, aber paßte einfach.
Margit Neubauer, Oper Frankfurt ,und diejenige, die am Folgetag dort Kracauers Meinung zu Jacques Offenbach zum Klingen bringen wird, hatte es mit dem Packen zu tun, dem wiederholt durchs Buch geisternden Packen, denn er ist viel in Deutschland unterwegs, unser Ginster, weshalb das Buch auch eines über Eisenbahnfahrten ist. Die Mutter packt halt am Besten, aber sie vergißt die Bücher, die Ginster noch hineinschmuggeln muß. Überhaupt ist jetzt wieder einmal die Familie und das heißt, auch der Onkel dran. Und schon sind wir mit Joachim Valentin, Direktor Haus am Dom, auf Seite 206.
„Der Mann mit dem Knopf am Uniformkragen hieß Knötchen. Er war Gefreiter und stand unmittelbar über Ginster, der zu seiner Korporalschaft gehörte. Her Gefreiter. Mehrere Korporalschaften bildeten zusammen einen Zug. Die Vorgesetzten waren lauter Herren, aber nicht geehrte wie in Briefen, sondern wirkliche, die einen Inhalt hatten, der aus ihrer Ranghöhe folgte. Knötchen trug eine Brille. Statt daß sie ihn bedeutender machte, sank sie durch ihn zu einem ungebildeten Nutzglas herab:“ (206) war nur der Anfang vom Ende des Krieges, das Valentin las.
Dann kam Rosemarie Heilig, der Dezernentin für Umwelt und Gesundheit der Stadt, das Lesen um Elfriede, die Schnecken trägt, zu. Diese Person ist eine weibliche Episode aus Q. und arbeitet in einer Buchhandlung, ist allerdings anders als die oben erwähnte Bibliothekarin am Lesen der anderen und sogar auch an Ginster interessiert. „Je wärmer das Wetter wurde, desto häufiger traf Ginster mit Elfriede zusammen. Er holte sie nach Geschäftsschluß an einer bestimmten Stelle ab und begleitete sie ein Stück weit über die Ringstraße. Nach Hause durfte er sie nicht bringen. Dinge, die sie liebte, nannte sie klein. Mein kleines Mütterchen, oft auch Kleinannchen. Da die Kleinheit schon am Anfang stand, hielt er, streng genommen das chen für überflüssig.“ Sie schickt ihm dann „Kleinbriefchen“ ins Amt, wo er dem Stadtbaurat widerwillig dessen Festschriften verfaßt, bis der Krieg zu Ende ist, Ginster auf Wunsch der Mutter unvermittelt nach F. zurückfährt...auf jeden Fall die Eröffnungsveranstaltung zu Ende ist.
Eigentlich. Aber dann geschieht ein Wunder. Adorno weilt unter uns. Es ertönt seine Stimme, mit der er daran erinnert, daß er über Rosi Stern, Studienrätin des Philanthropin, das ist die jüdische Schule in der Pfingsweidstraße, den schon versierten Kracauer kennenlernte, dessen Onkel, Isidor Kracauer, der Historiograf der Juden in Frankfurt war. Er erzählt, wie viel er Kracauer und dem gemeinsamen Lesen von Kants KRITIK DER REINEN VERNUNFT verdanke, was für ihn bedeutender wurde als die Lehren seiner späteren akademischen Lehrer. So erfährt man auch, daß er GINSTER, der „am Bahndamm blüht“ (Ringelnatz) für Kracauers gelungenstes ästhetischen Objekt hält, weil die Kracauersche Ironie die Realität bändige, in der Ginster lebt. Das Naive sei eben nicht naiv. „Sie transzendiert zu jener Theorie, der sie eine Nase dreht.“ - so Theodor W. Adorno in einem Radiokonstrukt aus dem Jahr 1964, genannt: „Der wunderliche Realist“ über den anders als Adorno und Horkheimer nicht nach Frankfurt zurückgekehrten Frankfurter Siegfried Kracauer, der am 26. November 1966 in den USA, in New York starb.
INFO:
Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag
Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg
Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag
Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag
Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag
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