Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 6

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Als zweiter Teil der Eröffnung zu FRANKFURT LIEST EIN BUCH kam das Buch selbst zum Klingen. Gleich neun Personen versuchten sich, darunter merkwürdigerweise nur zwei Frauen. Die Passagen waren den Sprechern zugeteilt worden und wir hatten allerhand damit zu tun, sie im Buch schnell aufzufinden.

 

Es war nämlich eine gute Mischung zustandegekommen: mal ging es um Kapitelanfänge, die mit den vielen leeren Seiten dazwischen aufeinander folgten, mal ging es um besonders geradezu burleske Stellen, manchmal um Gefühle mit den „Fräuleins“, wo man sich beim Vortragen erneut daran erfreute, welche schillernde Bedeutung diesem „Fräulein zukam, das aus unserem Sprachgebrauch entschwunden ist und damit sowohl das ältere, vertrocknete Fräulein, wie auch das gerade zur Frau heranreifende Backfischwesen heute nicht mehr markiert, eben auch ein Wort, das auf der Verliererstraße ist, im Gegensatz zu den Personen, die es meint.

 

Ein versierter Sprecher ist der Schauspieler Michael Benthin, der mit sonorer Stimme vortrug: „Als der Krieg ausbrach, befand sich Ginster, ein fünfundzwanzigjähriger Mann, in der Landeshauptstadt M. Er hatte hier nach bestandenem Doktorexamen eine Stellung angetreten. Der Doktor wäre überflüssig gewesen, aber Ginster liebte die mit einem Examen verbundene Spannung und wollte im Bewußtsein, den Titel rechtlich erworben zu haben, später gleichsam inkognito ohne ihn leben.“(S.7) Da konnte sich manch einer ob des geradezu gegensätzlichen Verhaltens bundesdeutscher Politiker von heute das Lachen nicht verkneifen und sofort setzt die Reflexion auf Kracauers Roman ein, daß dieser wirklich zu fast jeder Situation von heute schon vor 85 Jahren, als GINSTER 1928 das erste Mal erschien, etwas zu sagen hatte!

 

Der Schriftsteller und gegenwärtiger Stadtschreiber von Bergen, Marcel Beyer, fuhr mit dem 2. Kapitel fort: „Ginster stammte aus F., eine historisch gewachsenen Großstadt, an einem Fluß, zwischen Mittelgebirgen. Wie andere Städte auch, nutzte sie ihre Vergangenheit zur Hebung des Fremdenverkehrs aus. Kaiserkrönungen, internationale Kongresse und ein Bundeschützenfest fanden in ihren Mauern statt, die schon längst in öffentliche Anlagen umgewandelt sind. Dem Gärtner ist ein Denkmal gesetzt. Einige christliche und jüdische Familien führen ihre Entstehung auf Ahnen zurück.“ (22)

 

Leider kam dann nicht die Passage mit dem Pfeifen auf der Tramplattform, aber dafür die feinsinnigen Überlegungen zur Berufswahl, wo es über Ginsters Reaktionen zu den Äußerungen seiner Mitschüler heißt: „Die Fähigkeit, seinen Platz in der Gesellschaft mit solcher Umsicht vorauszubestimmen, ging ihm ab. Am liebster wäre er gar nichts geworden, aber zu Hause bestanden sie auf einem Broterwerb.“ (25)Beyer endete mit dem am Ende des 2. Kapitels geschilderten Zusammentreffens mit Otto, ebenfalls aus F., und den Essiggürkchen: „Als vorhin die Essiggürkchen so pedantisch den Schinken verzierten...“ (45 f) und den Kindheitserinnerungen und der Gegenwartsverliebten von Otto.

 

Clemens Greve, Geschäftsführer Frankfurter Bürgerstiftung im Holzhausenschlößchen, über das Ginster übrigens nie schreibt, obwohl er nicht weit davon entfernt wohnte, begann mit den 3. Kapital: „Am zehnten Mobilmachungstag unternahm Ginster die Heimreise nach F. Die Bücherkiste war abgeschickt.“ (48) Diese Bücherkiste, will sagen, die Verschickung jeweils einer andere Bücherkiste, wird uns durch das Buch begleiten. Hier geht’s nun ums Reisen und die Soldaten und um die Volkslieder, die das Soldatenleben begleiten und überhaupt die Briefmarken. Da sind wir schon bei dem Onkel daheim, der ein moralischer Pendant ist und meint, daß die Marken in den Kasten gehören und nicht auf die Briefe. Peter Lückemeier , Ressortleiter Rhein-Main der FAZ las als Vierter die Aussagen zur Musterung von Ginster, die den noch in M. als Freiwilligen Abgelehnten dann doch ereilte und der er trotz der 20 Mark Bestechung vom urteilenden Medizinprofessors fürs Erste nicht entgehen kann. Fortsetzung folgt.

 

Foto: Wolfgang Becker

 

INFO:

Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg

 

Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag

 

Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag

 

Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag

 

 

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