Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 5

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Immer hatte Ginster bei Öffentlichen Veranstaltungen Pech. Entweder kam er zu spät, oder er erhielt zu seiner Überraschung einen ausgezeichneten Platz, der aber, wie sich bald herausstelle, nur darum freigeblieben war, weil er nach der verkehrten Seite zu lag.“(S.316)

 

Hausherrin Elisabeth Niggemann hatte die zahlreich gekommenen Gäste zu Eröffnungsveranstaltung zu FRANKFURT LIEST EIN BUCH in der Deutschen Nationalbibliothek willkommen geheißen und damit auch diejenigen, die zu spät gekommen, oben auf der Empore oder unten vor den Lautsprecher saßen, die die Veranstaltung im großen Saal übertrugen. Ja, so ging es jedem an diesem Abend, daß er die Wirklichkeit des Jahres 2013 auch aus den Augen von Ginster, dem Anti-Helden Siegfried Kracauers ansah und sofort eine Stelle aus dem Roman gegenwärtig hatte. Für eine Generaldirektorin einer Bibliothek selbstredend eine der vielen Stellen, die von Bibliotheken handeln. Denn tatsächlich ist Ginster ein Bücherliebhaber, selbst einer von Kitschromanen, wenn es denn sein muß.

 

Frau Niggemeyer, die dem GINSTER wünschte, „neu zu blühen“ sprach damit den auch in Frankfurt nach dem Winter übergangslos hereingebrochenen Sommer an. Und der Zuhörerin fiel sofort die Bibliothekspassage aus GINSTER EIN „Bei schönem Wetter wagte er er oft überhaupt nicht zu bestellen.““ (310) In der Deutschen Nationalbibliothek finden sich alle Schriften in Erstausgaben von Kracauer und auch die zum Thema Film hat die Besitzerin, das Deutsche Filminstitut, hier zum Ausleihen deponiert. Wie oft sie ausgeliehen werden, sagte sie nicht. Aber das wird sich nach dem 14tägigen Frankfurter Lesefest sicher sowieso ändern.

 

GINSTER und die Bibliotheken also. Und natürlich nahm die Direktorin den Ball von Kracauer auf und zitierte:“ Das Fräulein empfand die Benutzer der Bibliothek als eine überflüssige Dreingabe zu den Büchern, die es wie Untergeben behandelte. Wurde ein Band verlangt, der nicht gleich zu finden war, so nahm es die Zumutung übel. Man konnte sich auch mit den vorderen Regalen begnügen. Zu gewissen Tagesstunden durften die hellblonden Knaben und Mädchen entleihen, die das Fräulein besonders verdrossen, obwohl sie in seiner Gegenwart nicht einmal hüpften. Es teile sie in Altersstufen ein, zu denen jeweils bestimmte Bücher gehörten. Zum Glück wurde die Kinder immer älter, sonst hätten sie stets dasselbe lesen müssen. Am liebsten blieb das Fräulein allein und sah mit seinen Sommersprossen zum Fenster hinaus. Ginster bemühte sich, durch verdoppelte Höflichkeit die Störung gutzumachen, die er unfreiwillig hervorrief.“

 

Kulturdezernent Felix Semmelroth hingegen hatte sich die hintergründige Ironie der ginsterschen Reflexionen zu eigen gemacht und sich über die Nachmachaktion der Hauptstadt gefreut, „Auch Berlin liest inzwischen ein Buch“ und süffisant und wirklich doppeldeutig hinzugefügt: „Um so mehr freut es mich, daß das Buch in einem Berliner Verlag erscheint.“ Daß die Verlegerin, die Suhrkamp von Frankfurt nach Berlin hat umziehen lassen, an diesem Abend allerdings trotz Ankündigung nicht persönlich in Erscheinung trat, hätte ihr sicher nur Ginster übelgenommen. Thomas Sparr, Suhrkamp-Geschäftsführer, entschuldigte, „die leider verhinderte „ Ulla Unseld Berkéwicz, und verwies auf die Kraft des Buches.

Im Roman GINSTER kämen so viele Stimmen zur Stadt Frankfurt zu sprechen, so daß man auch sagen können: „Ein Buch liest eine Stadt“, in dem es auch die Atmosphäre von F. Der damaligen Zeit erlebbar mache. Das Buch helfe auch zur inneren Sammlung in hektischen Zeiten der "Zerstreuung". Überhaupt hätten Bücher derzeit Rückenwind. Der Umsatz sei in den letzten Monaten um 13 Prozent gestiegen. Zudem sei GINSTER eine gute Vorbereitung auf das nächste Jahr: Da werde zum Hundertsten des Ersten Weltkrieges gleichzeitig Kracauer 125 Jahre. "Ein Ginster kann neu blühen" erhoffte Kracauer 1963, was - das ist jetzt unsere Rede - vielleicht auch mit der dann endlich verfügbaren Taschenbuchversion einsetzen könnte, die in diesem Jahr, will man viele Leser haben, wirklich fehlt. Fortsetzung folgt.

 

INFO:

Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg

 

Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag

 

Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag

 

Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag

 

 

www.frankfurt-liest-ein-buch.de