DIE KRIMIBESTENLISTE IM JULI, Teil 4
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Nachdem nun geklärt ist, was es mit diesem Buch, sozusagen als Nullnummer auf sich hat - „Mit diesem Roman sitzt die Figur des Kommissars Maigret. Simenon hat seinen Helden endlich im Griff.(Pierre Assouline) – ist man gespannt, was einen erwartet.
Tatsächlich las ich diesen Roman anders als andere. Die sind ja erst einmal von den handelnden Personen und der Geschichte selbst her interessant, so daß bei Krimis sehr oft dem ‚Gemachten‘, also wie dieser Roman geschrieben, gestaltet, im Detail etwas Eigenes ist, leicht zu kurz kommt. Weiß man aber um die Nullnummer, liest man insbesondere die Passagen, die stark vom Kommissar Maigret bestimmt sind, mit anderen Augen. Dazu noch mehr.
Erst einmal teilen wir seine Verblüffung, die eintritt, als in seinem Kommissariat eine hübsche junge blonde Frau, die ihm verwirrt, aber nachdrücklich einen Mord gesteht, verschwunden ist, als er dienstbedingt, kurz sein Zimmer verlassen muß. Beim Herausgehen hatte er noch kurz überlegt, abzuschließen. Das Versäumnis bedauert er nun. Dieses nachträgliche Ärgern, nicht seinem Impuls, also seinem Bauchgefühl, gefolgt zu sein, wiederholt sich im Buch. Und schon ist der Leser in die Fall gegangen, denn wie oft passiert genau dies dem Leser selber. Hätte ich doch..., wäre.
In den späteren Romanen ist es genau diese Intuition, die Maigret auszeichnet, weshalb er immer mehr ahnt, mehr weiß, als seine Kollegen. Aber hier übt er noch und lernt aus seinen Erfahrungen. Die Geschichte ist ganz schön kompliziert – und löst sich erst vom Ende her in ganz einfache Stränge auf. Aber das ist das Wichtige, daß der Leser nicht getäuscht wird, die ganzen Wirrungen und Irrungen eben den Sinn haben, der Geschichte Spannung und Entwicklung zu verleihen.
Denn die junge Frau taucht bald wieder auf, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Nämlich als Tochter des Mieters in einem Haus, in dem der Besitzer, ein angeblicher Kapitän, gerade ermordet wurde. Doch die junge Frau weiß von nichts, was später noch viel geheimnisvoller wird, denn dann gibt‘s diese Frau im Doppel. Und hier fallen einem die Künste des Krimischriftstellers besonders auf: Er baut die Handlung auf eine Abfolge schneller, witziger, dann sogar rasanter Dialoge auf, was Geschwindigkeit suggeriert. Gleichzeitig unterfüttert er die Dialoge mit ausführlichen Beschreibungen des Äußeren von Personen, so daß man die Aktion plastisch vor Augen sieht.
Zum Beispiel auf Seite 28: Nach der Beschreibung: „Madame Demassis, die Schwester des Toten hatte einen spektakulären auftritt. Sie war mollig, immer noch hübsch und sehr gepflegt. Ihr Haar war blondiert, und die Schminke ließ ihre feinen Falten diskret verwinden. Sie war elegant gekleidet. Sie trug einen Nerz.“, folgt unvermittelt die wörtliche Rede: „‘Henry!‘, rief sie bereits an der Tür.“
Wir sind hier in der Handlung schon fortgeschritten und haben es mit mehreren Verdächtigungen zu tun. Maigret ist ganz und gar nicht Herr der Lage, sondern ständig unterwegs, um was Verdächtiges zu erhaschen. Aber es sind zu viele, als daß er sich frühzeitig auf einen Verdächtigen konzentrieren könnte. Mit ihm irren wir also zwischen dem 16. Arrondissement und Montreuil hin und her, es verschlägt ihn sogar völlig umsonst nach L‘Havre und wissen als Leserin genauso wenig wie Maigret, wo die Reise hin geht und wer hier der Schuldige sein wird. Eigentlich könnte es jeder und jede sein, so merkwürdig wie sich die Leute benehmen. Auch der Kommissar. Und geben wir es zu – nicht in der wirren und verwirrenden Handlung: Zwillinge spielen eine Rolle, die Kolonialzeit in Indien auch, Geld und Titel ebenso, nicht in der Geschichte selbst steckt das uns Interessante, sondern im Kommissar, den wir als Blaupause seiner selbst erleben.
So wütend wie Maigret in diesem Roman ständig ist, wird er nie wieder sein. So unfähig, seiner Intuition zu folgen, auch nicht. Aber eine Verhaltensweise besitzt er von Anfang an. Er beurteilt nicht, er verurteilt nicht, er beobachtet die Menschen und das Geschehen. Später wird das dazu führen, daß man Maigret im Gegensatz etwa zu Sherlock Holmes, der die wissenschaftliche Vorgehensweise bei der Aufklärung von Verbrechen vorantrieb (wie sie heute mit der Gen-Analyse Triumphe feiert), oder zum klassische Whodunit der Agatha Christie als den Meister der psychologischen Einfühlung erkennen wird, der mit Empathie für die Täter die Verbrechen aufklären kann.
Er raucht schon Pfeife. Ein Unglück, als diese kaputtgeschlagen wird, die Jahre, die er sie rauchte, liegen ihm sofort im Sinn und er trinkt auch schon kräftig, allein in der abschließenden sehr langen Barszene sind es mehr Glas Wein, als die Polizei erlaubt. Und diese Szene ist es, zu der der Leser, der lange durchgehalten hat, nun dem Autor rät: „Komm zur Sache“. Aber der Reiz liegt genau darin, daß hier nicht stringent erzählt wird, sondern keine Übersicht möglich wird, was hier eigentlich los ist, als der eine Verdächtige, mit dem dicken Geldpaket in der Jacke, die ganze Kneipe freihält und Wein-, Bier- und Whiskyorgien stattfinden – und dann der Schuß fällt. Mehr in Ihrem Theater, Ihrem Leseexemplar!
Aber doch noch ein Wort zur Simenonschen Schreibstrategie. Er hält im Verlauf immer wieder inne und lädt den Leser ein, sich zu fragen, was ein aufmerksamer, intelligenter Leser von alleine tun müßte: „Hatte er es hier mit einer Tragödie, einer Farce oder mit Irrsinn zu tun?“(53) Simenon interpretiert also für den Leser gleich mit.
All das lädt magisch ein, sich die im Kampa Verlag erscheinende Simenon-Gesamtausgabe, hier der Teil DER GANZE MAIGRET nach und nach hineinzuziehen.
Und noch immer sind wir nicht fertig. Wir haben uns nämlich folgenden Luxus gegönnt: gehört und gelesen. In der Krimibestenliste werden immer die Bücher vorgestellt. Wir hören gerne, wenn vorhanden, die Hörbücher dazu. Hier gibt es die ungekürzte Lesung von Walter Kreyea aus dem Audio Verlag. Und bei diesem Buch mit den vielen Dialogen ist das Hören ein Vergnügen. Aber – die Erkenntnis war witzig – das von Simenon angerichtete Durcheinander, machte immer wieder das Nachlesen erforderlich, so daß eine Zwittersituation entsteht: eigentlich ist das Hören sinnlicher, gibt die Szenerie plastische wieder, aber die Handlungsstränge werden durch‘s Lesen stringenter. Was hier so logisch und psychologisch daherkommt, kann allerdings einen anderen Hintergrund haben. Alles in allem haben wir diesen Maigret nämlich durch Hören und Lesen gleich zweimal aufgenommen. Das bringt viel: es macht schlauer und das Romangefüge durchsichtiger.
DIE KRIMIBESTENLISTE JULI
1(1)
Johannes Groschupf
Berlin Prepper
Suhrkamp, 236 Seiten, 14,95 Euro.
Berlin. 30 000 Hasskommentare löscht Onlineredakteur Walter Noack pro
Schicht, als Prepper vorbereitet auf jede Katastrophe. Unvorbereitet wird er fast
totgeschlagen, gegen die reale Hasswelt braucht es mehr als die Delete-Taste.
Der Ernstfall ist jetzt. Neues Subgenre: Berlin braun.
2(–)
Friedrich Ani
All die unbewohnten Zimmer
Suhrkamp, 495 Seiten, 22 Euro
München. Die Augenzeugen stumm, die Täter glauben sich im Recht, die
besorgten Rassisten bereiten den nächsten Schritt vor. Zwei tote Polizisten,
verdächtigte Flüchtlingskinder, da braucht es alle Ermittler: Tabor Süden, Polonius Fischer, neu Fariza Nasri. Der Irrsinn nimmt zu, Ani hält dagegen.
3(2)
Liza Cody
Ballade einer vergessenen Toten
Aus dem Englischen von Martin Grundmann. Ariadne
im Argument-Verlag, 416 Seiten, 22 Euro.
London, Las Vegas, achtziger Jahre, heute. Elly, absolutes Gehör, Komponistin
für die halbe Popwelt, mit fünfzehn Jahren bestialisch ermordet. Amy rekonstruiert ihre Geschichte: kindliches Genie in wahnwitziger Musikindustrie. Egoistische Schwestern, bizarre Mütter, scheinmächtige Kerle. Faszinierend.
4(3)
Kate Atkinson
Deckname Flamingo
Aus dem Englischen von Anette Grube.
Droemer, 336 Seiten, 19,99 Euro.
London 1940, 1950, 1981. Der Flamingo ist ein Tscheche, der Fuchs ein
Mr. Smith. Julia Armstrong von den Kindersendungen der BBC hat eine Vergangenheit in den schattigen und blutigen Falten von Weltkrieg und Kaltem Krieg.
Kunstvolles Pastiche der großen Spionageliteratur aus weiblicher Perspektive.
5(–)
Mike Nicol
Sleeper
Aus dem Englischen von Mechthild Barth.
btb, 512 Seiten, 10 Euro
Kapstadt. HEU, waffenfähiges Uran, ist es, was Isis, die Iraner, die Amerikaner,
die Chinesen, die Russen wollen. Und die Südafrikaner verkaufen es gerne, illegal. Glimmender Hintergrund, vor dem all die schlafenden Geheimdiensthunde erwachen und Fish Pescado und Vicky Kahn um ihr Leben kämpfen.
6(–)
Alan Carter
Marlborough Man
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Suhrkamp, 383 Seiten, 14,95 Euro
Marlborough Sounds. Vor den Gangstern, die er im heimatlichen England als
Undercover-Cop auffliegen ließ, versteckt sich Nick Chester samt Familie als
Landpolizist in Neuseeland. Nick erwartet den endgültigen Showdown, da
stößt er auf einen Kindermörder. Bröcklige Maskulinität vor großer Kulisse.
7(–)
Georges Simenon
Maigret im Haus der Unruhe
Aus dem Französischen von Thomas Bodmer.
Kampa, 220 Seiten, 16,90 Euro
Paris. Kommissar Maigrets allererster Fall, noch von einem „Georges Sim“
verfasst, erstmals auf Deutsch. Nächtens gesteht eine junge Frau einen Mord,
als Maigret sich umdreht, ist sie verschwunden. Mit großer Geduld belagert
Maigret eine Familie in ihrem Wahn, bis die Wahrheit aufbricht.
8(5)
Ivy Pochoda
Wonder Valley
Aus dem Englischen von Sabine Roth und Rudolf
Hermstein. Ars Vivendi, 400 Seiten, 18 Euro.
Los Angeles, Südkalifornien. Im Beifußdunst wurde auf der Aussteiger-Ranch im
Wonder Valley vergessen und verdrängt. Vier Jahre später: Ein nackter Mann
joggt durch den Morgenverkehr. Und wird zum Objekt von Erinnerungen,
Vergeltungs- und Erlösungsphantasien. L. A.: Sehnsuchtsort im Kaleidoskop.
9(6)
Harry Bingham
Fiona – Wo die Toten leben
Aus dem Englischen von Kristof Kurz und
Andrea O’Brien. Rowohlt, 544 Seiten, 10 Euro.
Wales. Im Totenhaus liegt eine weibliche Leiche, super gepflegt, nur ihre Beine
sind nicht rasiert. Das weckt Fionas Spürsinn. Der führt sie in ein Höhlensystem, eine Folterscheune und ein Kloster. Sehr fiese Erfahrungen. Aber Fiona ist
die taffste Frau im Krimikosmos. Beste Unterhaltung. Unwiderstehlich.
10(–)
Jim Nisbet
Welt ohne Skrupel
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika
Müller. Pulp Master, 233 Seiten, 14,80 Euro
San Francisco. Klingers Vorsatz, sich langsam mit doppelten Jamesons zu
suizidieren, scheitert an allzu spontanen Versuchen, sich kriminell mit
Trinkgeld zu versorgen, und an der Hinterlist einer Femme fatale aus dem
Universum der Apps und Bytes. Thekenphilosophisch noir. Dauerregen.
Die Krimibestenliste
Die zehn besten Kriminalromane des Monats Juli 2019
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und
Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und
der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen
haben.
Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury | Volker Albers, „Hamburger
Abendblatt“ | Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank,
„Rolling Stone“ | Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ | Hanspeter
Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“,
„Polar Noir“ | Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“| Kolja Mensing,
„Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering, „Spiegel Online“, |
Ulrich Noller, WDR, „Deutschlandfunk Kultur“, SWR | Frank Rumpel,
SWR | Margarete von Schwarzkopf, Literaturkritikerin |Ingeborg Sperl,
„Der Standard“ | Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ | Jochen Vogt,
„NRZ“, „WAZ“
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste am ersten Sonntag des Monats in der FAS SONNTAGSZEITUNG