Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Eigentlich geht es um den neu auf die Liste gesetzten MAIGRET IM HAUS DER UNRUHE von George Simenon auf dem 7. Platz, den der Kampa Verlag herausgebracht hat. Und es wird nicht der letzte Maigret auf der Krimibestenliste sein, denn das so ehrgeizige wie sinnreiche Unternehmen des Verlegers Daniel Kampa ist die gesamte neuübersetzte Werkausgabe des George Simenon unter dem Motto: DER GANZE SIMENON.
Auf 75 Maigretromane dürfen wir, wie auf 28 Maigreterzählungen gespannt sein, aber wenn es zudem heißt, „alle 117 großen Romane“ seien bald lieferbar, muß man hinzufügen, daß über die 75 Maigrets hinaus tatsächlich noch über hundert andere Romane erschienen sind, wir wissen aber noch nicht, ob dazu auch seine Groschenromane zählen, von denen er im Jahr 1928 ja alleine 44 (!) schrieb. Groschenromane. Welch herrlicher Ausdruck. Denn mehr als einen Groschen kosteten sie schon damals. Und nur noch Nachkriegskinder, denke ich, wissen noch um die ganze Groschenliteratur, die an den Kiosken, manchmal unter der Ladentheke, verkauft wurden. Heute ist alles in feinen Buchhandlungen so säuberlich auf Tischen aufgebahrt.
Aber auch darum geht es nicht, sondern um die Frage, wie Maigret wirklich zur Welt kam, will sagen, seit wann die später so eindeutige Figur, die auch in Filmen Triumphe feierte, so ausgestattet war, daß Simenon seinen literarischen Helden zusammengeschrieben hatte, der nun als Maigret in die Kriminalromangeschichte einging.
Köstlich, das nachzulesen, was Verleger Daniel Kampa - den wir noch als Nachfolger von Günter Berg als Verlagschef bei Hoffmann und Campe kennenlernten, schnelle Wechsel - in SIMENON, MAIGRET IM HAUS DER UNRUHE im Nachwort als Legende entlarvt: wie nämlich Simenon selbst seine Erfindung der Figur Maigret einmal so erklärt, er sei in Holland ans Licht gekommen, ein andermal anders, nämlich in Frankreich, und ein drittes Mal den guten Kommissar sogar in Norwegen erdichtet haben will. Alles nicht wahr, denn das Geschriebene ist das beste Zeugnis gegen den Autor. „Warum kam Jules Maigret ausgerechnet im Hafen von Delfzijl, in den nördlichsten Niederlanden, am Ufer der Ems zur Welt?“ Warum? Warum Holland?“ (200), schreibt Simenon anläßlich der Einweihung der Maigretstatue, von ihm selbst 1966 vorgenommen.
Nach einigen Seiten hat Kampa uns bewiesen, daß das alles ein Fake ist, daß uns Simenon an der Nase herumgeführt hat, ach was, vielleicht auch sich selbst. Die Gedächtnisforschung präsentiert uns jeden Tag, was Johannes Fried mit DER SCHLEIER DER ERINNERUNG aus dem Beck Verlag für die Geschichtswissenschaft mit fatalen Folgen aufgewiesen hat: unser Gedächtnis, das wir für objektiv halten, schließlich haben wir das so erlebt, denken und fühlen wir, konstruiert unsere Erinnerung, ist also überhaupt nicht objektiv.
Und so läßt Kampa dem holländischen Städtchen Delfzijl zwar seine Maigretstatue, aber die Entstehung der Figur nimmt einen anderen Weg. Das ist herzhaft ab Seite 199 vom Verleger Daniel Kampa in DIE LEGENDE VON DER EINFACHEN GEBURT analysiert worden. Wir wollen dem Ergebnis hier nicht vorgreifen.
Was Kampa und andere dem holländischen Städtchen, die schließlich auf dieser Legende ihren Tourismus aufgebaut haben, der prächtig funktioniert, was sie also dem Städtchen mit der einen Hand nehmen, geben sie mit der anderen Hand! Denn bisher galt MAIGRET UND PIETR DER LETTE als erster Maigretroman, in Delfzijl verfaßt. Auch das ist falsch! Dafür wird nun MAIGRET IM HAUS DER UNRUHE als der erste Roman bezeichnet, in dem die Figur des Maigret, an der Simenon zuvor rumgedoktert hatte, in dem Format erscheint, wie es uns, den Lesern, in die Netzhaut eingebrannt ist. Und diesen Roman, von uns nun als Nullnummer bezeichnet, hat er wirklich in Delfzijl geschrieben! Zeit, ihn endlich vorstellen.
FORTSETZUNG FOLGT
DIE KRIMIBESTENLISTE JULI
1(1)
Johannes Groschupf
Berlin Prepper
Suhrkamp, 236 Seiten, 14,95 Euro.
Berlin. 30 000 Hasskommentare löscht Onlineredakteur Walter Noack pro
Schicht, als Prepper vorbereitet auf jede Katastrophe. Unvorbereitet wird er fast
totgeschlagen, gegen die reale Hasswelt braucht es mehr als die Delete-Taste.
Der Ernstfall ist jetzt. Neues Subgenre: Berlin braun.
2(–)
Friedrich Ani
All die unbewohnten Zimmer
Suhrkamp, 495 Seiten, 22 Euro
München. Die Augenzeugen stumm, die Täter glauben sich im Recht, die
besorgten Rassisten bereiten den nächsten Schritt vor. Zwei tote Polizisten,
verdächtigte Flüchtlingskinder, da braucht es alle Ermittler: Tabor Süden, Polonius Fischer, neu Fariza Nasri. Der Irrsinn nimmt zu, Ani hält dagegen.
3(2)
Liza Cody
Ballade einer vergessenen Toten
Aus dem Englischen von Martin Grundmann. Ariadne
im Argument-Verlag, 416 Seiten, 22 Euro.
London, Las Vegas, achtziger Jahre, heute. Elly, absolutes Gehör, Komponistin
für die halbe Popwelt, mit fünfzehn Jahren bestialisch ermordet. Amy rekonstruiert ihre Geschichte: kindliches Genie in wahnwitziger Musikindustrie. Egoistische Schwestern, bizarre Mütter, scheinmächtige Kerle. Faszinierend.
4(3)
Kate Atkinson
Deckname Flamingo
Aus dem Englischen von Anette Grube.
Droemer, 336 Seiten, 19,99 Euro.
London 1940, 1950, 1981. Der Flamingo ist ein Tscheche, der Fuchs ein
Mr. Smith. Julia Armstrong von den Kindersendungen der BBC hat eine Vergangenheit in den schattigen und blutigen Falten von Weltkrieg und Kaltem Krieg.
Kunstvolles Pastiche der großen Spionageliteratur aus weiblicher Perspektive.
5(–)
Mike Nicol
Sleeper
Aus dem Englischen von Mechthild Barth.
btb, 512 Seiten, 10 Euro
Kapstadt. HEU, waffenfähiges Uran, ist es, was Isis, die Iraner, die Amerikaner,
die Chinesen, die Russen wollen. Und die Südafrikaner verkaufen es gerne, illegal. Glimmender Hintergrund, vor dem all die schlafenden Geheimdiensthunde erwachen und Fish Pescado und Vicky Kahn um ihr Leben kämpfen.
6(–)
Alan Carter
Marlborough Man
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Suhrkamp, 383 Seiten, 14,95 Euro
Marlborough Sounds. Vor den Gangstern, die er im heimatlichen England als
Undercover-Cop auffliegen ließ, versteckt sich Nick Chester samt Familie als
Landpolizist in Neuseeland. Nick erwartet den endgültigen Showdown, da
stößt er auf einen Kindermörder. Bröcklige Maskulinität vor großer Kulisse.
7(–)
Georges Simenon
Maigret im Haus der Unruhe
Aus dem Französischen von Thomas Bodmer.
Kampa, 220 Seiten, 16,90 Euro
Paris. Kommissar Maigrets allererster Fall, noch von einem „Georges Sim“
verfasst, erstmals auf Deutsch. Nächtens gesteht eine junge Frau einen Mord,
als Maigret sich umdreht, ist sie verschwunden. Mit großer Geduld belagert
Maigret eine Familie in ihrem Wahn, bis die Wahrheit aufbricht.
8(5)
Ivy Pochoda
Wonder Valley
Aus dem Englischen von Sabine Roth und Rudolf
Hermstein. Ars Vivendi, 400 Seiten, 18 Euro.
Los Angeles, Südkalifornien. Im Beifußdunst wurde auf der Aussteiger-Ranch im
Wonder Valley vergessen und verdrängt. Vier Jahre später: Ein nackter Mann
joggt durch den Morgenverkehr. Und wird zum Objekt von Erinnerungen,
Vergeltungs- und Erlösungsphantasien. L. A.: Sehnsuchtsort im Kaleidoskop.
9(6)
Harry Bingham
Fiona – Wo die Toten leben
Aus dem Englischen von Kristof Kurz und
Andrea O’Brien. Rowohlt, 544 Seiten, 10 Euro.
Wales. Im Totenhaus liegt eine weibliche Leiche, super gepflegt, nur ihre Beine
sind nicht rasiert. Das weckt Fionas Spürsinn. Der führt sie in ein Höhlensystem, eine Folterscheune und ein Kloster. Sehr fiese Erfahrungen. Aber Fiona ist
die taffste Frau im Krimikosmos. Beste Unterhaltung. Unwiderstehlich.
10(–)
Jim Nisbet
Welt ohne Skrupel
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika
Müller. Pulp Master, 233 Seiten, 14,80 Euro
San Francisco. Klingers Vorsatz, sich langsam mit doppelten Jamesons zu
suizidieren, scheitert an allzu spontanen Versuchen, sich kriminell mit
Trinkgeld zu versorgen, und an der Hinterlist einer Femme fatale aus dem
Universum der Apps und Bytes. Thekenphilosophisch noir. Dauerregen.
Die Krimibestenliste
Die zehn besten Kriminalromane des Monats Juli 2019
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und
Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und
der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen
haben.
Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury | Volker Albers, „Hamburger
Abendblatt“ | Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank,
„Rolling Stone“ | Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ | Hanspeter
Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“,
„Polar Noir“ | Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“| Kolja Mensing,
„Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering, „Spiegel Online“, |
Ulrich Noller, WDR, „Deutschlandfunk Kultur“, SWR | Frank Rumpel,
SWR | Margarete von Schwarzkopf, Literaturkritikerin |Ingeborg Sperl,
„Der Standard“ | Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ | Jochen Vogt,
„NRZ“, „WAZ“
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste am ersten Sonntag des Monats in der FAS SONNTAGSZEITUNG
Foto:
Georges Simenon 1963
© Erling Mandelmann
Georges Simenon 1963
© Erling Mandelmann