Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 4

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es ist also nicht der Handlungsverlauf im Roman das Spannende, sondern zum einen diese distanzierte Haltung des Ginster zur Welt und zu sich selbst, zum anderen kann man sich nicht sattlesen und -hören, worüber Kracauers Held ins Sinnieren und Philosophieren kommt.

 

Eine solche Fülle an Reflektionen breitet sich vor einem aus, über das Leben, auch das in Frankfurt, aber eben grundsätzlich und generell, daß man versucht ist, ständig Sätze zum Zitieren herauszuschreiben und erst aufgibt, als man merkt, daß man den Roman fast abschreibt.

 

Der Geburt des Siegfried am 8. Februar – aha, ein Wassermann – 1889 in Frankfurt stellt Schopf Zeitgenössisches aus der Frankfurter Zeitung am selben Tage zur Seite, der Zeitung, in deren Redaktion Kracauer 32 Jahre später im Jahr 1921 eintritt. Sein Vater Adolf war zusammen mit dem drei Jahre älteren Bruder Isidor aus Niederschlesien, aus Sagan nach Frankfurt gekommen, weil Isidor als Lehrer am Frankfurter Philanthropin 1876 eine Stelle bekam. Adolf war Handelsvertreter für Tuchwaren und versprach sich bessere Geschäfte. Zudem heirateten beide 1888 in dieselbe Familie Oppenheimer ein: Isidor und Hedwig sowie Adolf und Rosette.

 

Eine karge Kindheit, von den gesellschaftlichen Komplexen des Vaters und dem ausgesprochenen Gefühl des Nicht-Dazugehörens geprägt, wenn man das zweite Kapitel von GINSTER für die Gefühle des Knaben nimmt. In seinen Erinnerungen schreibt Kracauer auch von seinen Auswegen aus der familiären Beklemmung durch Streifzüge durch Frankfurt, wo er sich als der Beherrscher von deren Straßen empfand und als einer, der vom Dunkeln ins Licht wandert. Der andere Ausweg ist die Welt der Bücher und der Bildung bei seinem Onkel Isidor, der mit der GESCHICHTE DER JUDEN in Frankfurt a.M. (1150 bis 1824) das zentrale Werk für das Frankfurter Judentum verfassen wird. An dessen Schule,dem Philanthropin wird Kracauer von 1898 bis 1904 Schüler und macht dann im März 1907 sein Abitur - 'sehr gut' in Fleiß, Mathematik, Naturbeschreibungen und Zeichnen - an der Klinger-Oberrealschule.

 

Nimmt man Ginsters Aussagen zu dessen Architekturstudium auch für den Verfasser ernst, das ihm in Folge seiner filigranen Arabesken quasi naturwüchsig von der Umwelt zugeschrieben wurde, dann weiß Kracauer selbst auch nicht so genau, warum er Architektur – in Darmstadt, München, Berlin und Osnabrück – studierte und sein Praktikum in Frankfurt absolvierte, das ihm klarmachte, daß die Handarbeit, die praktischen Fähigkeiten nicht sein Ding seien. Aber das Schreiben darüber. Seine Dissertation beschäftigt sich mit der Entwicklung der Schmiedekunst und sein gesellschaftlich-politisches Interesse daran bekundet er in einem Artikel DAS ORNAMENT DER MASSE 1927: „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Diese sind als der Ausdruck von Zeittendenzen kein bündiges Zeugnis für die Gesamtverfassung der Zeit. Jene gewähren ihrer Unbewußtheit wegen einen unmittelbaren Zugang zu dem Grundgehalt des Bestehenden. An seine Erkenntnis ist umgekehrt ihre Deutung geknüpft. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig.“(19)

 

Diese Sätze – wir stimmen ihnen völlig zu - kann man gut und gerne für das Movens seiner journalistische und wissenschaftlichen Arbeiten nehmen, worunter die Filmkritiken, die ihn zur Filmsoziologie führen genauso gehören, wie die von anderen kulturgeschichtlichen Werken, weshalb es gut paßt, daß er sich selbst gerne als KULTURPHILOSOPH versteht. 1914 hatte sich Kracauer für den freiwilligen Kriegsdienst gemeldet, auch Ginster wird dies in München tun, genommen wurden sie beide nicht. Dann wird Kracauer im September 1917 einberufen. „Sie führt ihn zur Fußartillerie in Mainz, wo sich seine militärischen Einsätze auf 'Wachdienst und Kartoffelschälen' beschränken und er bald wieder 'arbeitsverwendungsfähig' entlassen wird (Schopf, S. 22) Mit dem Ende des Krieges stirbt auch der Vater und Mutter und Sohn ziehen zusammen mit Onkel und Tante in die Sternstraße 29, dicht am Anlagenring der Innenstadt.

 

Längst arbeitet er als freier Journalist und veröffentlicht 1922 sein zweites Buch SOZIOLOGIE ALS WISSENSCHAFT, dessen Kapitel er zuvor auch in der Frankfurter Universitäts-Zeitung unterbrachte, die ihn neben der Frankfurter Zeitung druckt , womit sich seine Lebensrichtung einer wissenschafts- publizistischen Laufbahn andeutet, zu der es später auch kommt. Erst einmal aber wird er 1921 Lokalredakteur, schreibt viel über Architektur und von Anfang an über Filme, was ab 1924 zur Haupttätigkeit im Feuilleton der FZ wird und ihn zum wichtigsten Filmkritiker der Zwanziger Jahre macht. Seine intellektuellen Freunde: Adorno, Horkheimer, Bloch, Benjamin sind sämtlich jünger und erwarten vom arrivierten Kracauer „der mit dem Posten bei der Frankfurter Zeitung eine Schlüsselstelle in Meinungsbildung und Deutungshoheit einnimmt“ (28), eine entsprechende publizistische Würdigung ihrer ersten und zweiten Bücher, Erwartungen,die er so nicht einlösen wird oder kann.

 

Im März 1930 wechselt Kracauer nach der Hochzeit mit Lili Ehrenreich nach Berlin in das dortige Feuilleton der FZ, was ihn auch der Frankfurter Szene entfremdet. Berlin läßt Kracauer in aller Schärfe den Siegesrausch des Nationalsozialismus vorhersehen, auf jeden Fall wird ein Beitrag in der Hauszeitschrift des S. Fischer Verlages im Januar 1933 sein letzter sein und als er am 2. März in der FZ über den Reichstagsbrand schreibt, ist er schon in Paris, wo er die dortige Korrespondentenstelle antritt, aber schon im Sommer, nachdem sein exzellentes soziologisches Werk DIE ANGESTELLTEN am 10. Mai 1933 von den Nazis mitverbrannt wurde - von seiner Zeitung fallengelassen wird und sich von Adorno so unsinnige wie gefährliche Ratschläge anhören muß, zurückzukehren, da sich „die Verhältnisse konsolidieren“ werden.

 

Stattdessen schlägt er sich in Europa durch, bis ihm und seiner Frau am 28. März 1941 die Flucht über Lissabon in die USA gelingt, wo er auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Exil bleibt; sein Tod kommt überraschend infolge einer Lungenentzündung am 26. November 1966. Er kam, anders als Adorno und andere, nur zum Besuch nach Deutschland zurück. Er bekam nämlich, auch anders als Adorno und andere, keine einzige akademische Stelle angeboten. Er wurde, ebenfalls anders als andere Exilanten, auch in den USA als Denker und Filmsoziologe wahrgenommen.

 

 

 

INFO:

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag 2013

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg 2013

 

Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag 2013

 

Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag 2008

 

Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag

 

 

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