Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 14
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ein starker Auftritt war das, den Wolfgang Schopf als Stichwortgeber einleitete und den seine fünf männlichen und drei weiblichen Universitätskollegen dann aus dem Roman GINSTER, zeitgenössischen Dokumenten zu dessen Entstehung und Rezeption sowie Details aus des Autors Lebensgeschichte vortragend zu einem Gesamtkunstwerk Person und Werk Kracauers verdichteten.
Schopf hatte das Manuskript verfaßt und war – wie er sagte – erst Minuten vor Beginn fertig geworden. Das merkte man - auch in den Schlußpassagen - dieser geglückten Montage aus so vielen Bereichen wahrlich nicht an. Wer zudem sein Exemplar von GINSTER dabei hatte – an dessen ständige Begleitung gewöhnt man sich einfach in diesen zwei Wochen - , der konnte, so er inzwischen lesefest geworden war, gespannt verfolgen, wie Schopf allein die Passagen aus dem Buch geschickt mal von vorne,mal von hinten, dann aus der Mitte nutzte, um mit ihnen, selten gegen sie, die Korrespondenzen im Leben Kracauers/Ginsters zu erläutern.
Folgerichtig begann es mit dem Vortrag des 2. Kapitel: „Ginster stammte aus F....“ So übrigens hatte auch der Abdruck in der Frankfurter Zeitung 1928 begonnen und sich 16 Mal fortgesetzt. Damals auf der ersten Seite übrigens. Heute sind die Fortsetzungsromane, die noch nach 1945 en vogue waren, schon länger verschwunden. Uns kommt so vor, als ob am heutigen Abend die Personen im Buch näher vorgestellt werden. Auf jeden Fall notierten wir uns: „schön, daß hier die Personen eine Rolle spielen.“ Der Onkel ist schon oft erwähnt worden, aber der Vater ist meist eine Leerstelle. Daß er zusammen mit dem Bruder aus nach Frankfurt gekommen sei und dann auch noch beide in die gleiche Familie einheirateten und Hedwig und Rosette, Kracauers Mutter zur Frau nahmen, ist schon eine Erwähnung wert, erklärt sie doch auch, weshalb die Mutter mit Ginster zur Schwester zieht und dann beide Witwen beieinander bleiben, bis in den Tod im KZ Treblinka.
Natürlich sind es die Stellen mit dem Havelock, dem langen Kleidungsstück des Vaters, das Siegfried, ach nein, Ginster depressiv macht. Hier wird nun gleichermaßen durch die ausgesucht Stellen vom Vater berichtet wie auch von den gemeinsamen Spaziergängen durch Frankfurt, was vor allem das hochherrschaftliche Westend betrifft, in das sich der Vater hineinträumt und sich auf einem der Gartenterrassen dieser Luxusvillen ausruhen sieht. Beim Zuhören verschränkt sich das wirklich, die Stellen aus Ginster und sonstige Aussagen von Kracauer zu seinem Vater und auch zur Mutter. Er war das einzige Kind, das wird eigentlich niemals erwähnt, war aber damals doch viel seltener als heutzutage.
Und dann kommt die Plattform. In fünften Artikel, dem zu Eröffnung, hatten wir diese Passage vermißt, die soviel über die Zeit, aber auch die Beeindruckenbarkeit des Kindes Ginster aussagt. Das fröhliche Pfeifen wird ihm auf der Plattform der Tram vom Schaffner verboten, obwohl ihn drinnen im Wagen gar niemand hören kann. Die Kleinmachgebärde versteht Ginster schon ganz richtig, begehrt aber nicht auf, sondern pfeift die nächsten Tage nicht mehr. Das bleibt ein Grundcharakterzug von Ginster. Der militärische Werdegang des Ginster wird gestreift, wie er dann in Mainz mit Kartoffelschälen Fußdienst hat. Von dem Architekten Valentin, bei dem Ginster eintritt, hört man sonst die Glanzpassage mit der Ausschreibung eines städtischen Friedhofs, wie sie auch bei Max Seckbach, in dessen Dienst Kracauer getreten war, als Ausschreibung der Stadt Frankfurt in Wirklichkeit vorfiel.
Dann folgt mit dem Hinweis auf die Anstellung als Redakteur bei der Frankfurter Zeitung 1921 auch die entsprechende Passage, die so herrlich aufzeigt, welche Sprachkraft Kracauer zur Verfügung stand, wie er das Deutsche in Bildern zu nutzen verstand: „Betrat man in den späten Abendstunden die Zeitung, so mußte man durch einen Nebeneingang – das Hauptportal war nach ach Uhr geschlossen – und kam im leeren Vestibül am Nachtportier vorbei, dessen dicke in sich zusammengekauerte Körpermasse wie ein Stearinklumpen auf dem Stuhl lagerte. Die Kerze, von der er herabgeträufelt war, schien schon ganz niedergebrannt zu sein. Statt das Haus in der Nacht zu hüten, wurde der Portier selber von dem Haus bewacht, und wenn man nicht genau hinsah, verschmolz er mit den Pfeilern und Wänden.“ (Schopf, 27)
Diese Passage ist aus Kracauers erst 1974 veröffentlichten, aber noch in Frankfurt geschriebenen zweiten Roman GEORG, der von einem Journalisten handelt, der von Kracauers Berufserfahrungen profitiert. Und während wir weiterlesen, fällt uns wieder einmal auf, daß nicht nur wir angesichts der vielen Überschneidungen vom Leben Kracauers mit seinem Helden GINSTER den Roman zu stark auf das Inhaltliche beschränkt und zu wenig die außerordentliche Bildhaftigkeit und elegante Verwendung vieler Formulierungen hervorhebt.
Wolfgang Schopf läßt dieses erste Jahr der Redakteurstätigkeit Revue passieren und listet innerhalb der 163 Artikel ein Viertel zur Architektur auf. Auf jeden Fall reüssiert der Kollege Journalist und übernimmt mehr und mehr die Kulturberichterstattung und hier vor allem die Filmkritik, Zwischendurch schreibt er seine Bücher. Das von 1925 ist schon sein drittes: eines über Detektivromane. Als 1928 sein Roman GINSTER ohne Verfassername, mit dem Hinweis versehen: von ihm selbst erzählt in der Frankfurter Zeitung erscheint, ist er schon ein anerkannter Redakteur und es ist absehbar, daß er als Feuilletonist n die Hauptstadtredaktion nach Berlin geht. Kurzweilig war das für die Zuhörer, die begeistert noch länger bleiben und über das Gehörte miteinander ins Gespräch kommen.
INFO:
Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag 2013
Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg 2013
Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag 2013
Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag 2008
Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag
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