b wanderlustEine Geschichte des Gehens, von Rebecca Solnit, Matthes & Seitz, Berlin 2019, Teil 2/2

Thomas Adamczak

Otzberg/Odenwald (Weltexpresso) -  Für Solnit ist das Wandern ein Bild für das Dasein der Menschen. Gehen, darauf weisen zahlreiche Philosophen und Schriftstellerinnen hin, ermöglicht assoziatives Denken wie auch meditative Empfindungen.

Natürlich zitiert Solnit Jean-Jacques Rousseau, der als einer der ersten über die grundlegende Bedeutung des Gehens nachgedacht hat. Nur beim Gehen, schreibt Jean-Jacques Rousseau, könne er gut denken. Berühmt sind der »Philosophenweg« in Heidelberg oder der »Philosophendamm« in Königsberg, auf dem Kant seine abendlichen Spaziergänge zelebrierte.

Gehen ist »ein Laboratorium der Wahrnehmung«, was beispielsweise auf Kierkegaard zutrifft, auch er ein berühmter, allerdings städtischer Wanderer, der das »Hin-und Herlaufen« als »Unterweisung für das Leben« deutete und seine Spaziergänge für Kontakte mit Menschen nutzte, durch die er sich zum Nachdenken anregen ließ (S. 33).

Als Essayistin sieht Solnit Verbindungslinien zwischen dem Gehen und dem Schreiben, und zwar dem essayistischen, aber auch dem literarischen Schreiben. Beim Lesen ihres Buches fällt gewiss manchem Leser, mancher Leserin zu dem Titel »Wanderlust« die offensichtliche »Schreiblust« der Autorin auf. Gedankenfluss beim Schreiben und  unaufhörlich fließende Gedanken beim Wandern!

Möglicherweise verdankt sich die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, die von James Joyce und Virginia Woolf in die Welt der Literatur eingeführt wurde und die seitdem für Literaturschaffende unverzichtbar ist, Spaziergängen oder  Wanderungen, auf denen sich diese Autoren die Besonderheit dieser Technik  bewusst gemacht haben.

Während des Gehens bleibt die Aktivität des Körpers in der Regel unbewusst, während die Gedanken, die unser Geist beim Gehen zulässt oder aktiv produziert, eher als bewusste Aktivität wahrgenommen werden.

Breiten Raum widmet Solnit dem Gehen, das mit einer politischen Intention verbunden ist. Sie geht auf Mahatma Gandhis 400 km langen »Salzmarsch« ebenso ein wie auf Martin Luther Kings Demonstrationszug von Selma nach Birmingham, mit dem das Wahlrecht für die schwarze Bevölkerung in den Südstaaten erstritten werden sollte. Eingegangen wird u.a. auf Friedens-und Ostermärsche, Aids-Läufe, die Gay-Pride-Parade oder auf den »Marsch der Pariser Marktfrauen“ im Jahr der Französischen Revolution.

Verwiesen wird  auf die Montagsdemonstrationen in Leipzig und Berlin, durch die die Wende vorbereitet wurde, und auf Plätze, die durch Demonstrationen berühmt wurden, wie zum Beispiel den Karl-Marx-Platz, den Alexanderplatz, den Wenzelsplatz oder den Platz des Himmlischen Friedens); Versammlungsorte von und für Menschen, die einen öffentlichen Raum zeitweise in Besitz nehmen, um ihren politischen Willen zu artikulieren.

Im für die Autorin wohl wichtigsten Teil des Bandes kommt sie auf die unterschiedliche Bedeutung des Gehens für Männer und Frauen zu sprechen. Sie verweist  auf die »Beschränkungen, die Frauen auferlegt wurden und die in den meisten Teilen der Welt über Jahrtausende hinweg die Identitäten beider Geschlechter tief geprägt haben«.

Frauen würden darin beschränkt, sich frei zu bewegen: durch Frauenkleidung, zum Beispiel »Stöckelschuhe, enge oder fragile Schuhe, Korsetts und Gürtel, sehr volle oder enge Röcke, leicht zu beschädige Stoffe, die Sicht beeinträchtigende Schleier -alles Teil der sozialen Normen, die Frauen ebenso wirksam beeinträchtigt haben wie Gesetze und Ängste«. (282

An dieser Stelle möchte ich Rebecca Solnit selbst und ihre wichtige Gewährsfrau Sylvia Plath zu Wort kommen lassen: Sylvia Plath schreibt in ihr Tagebuch, für sie sei es »die schreckliche Tragödie meines Lebens« »als Frau geboren zu sein«. Und dann folgt ihre erschütternde Begründung:

»Ja, mein verzehrender Wunsch, mich unter Straßenarbeiter, Matrosen und Soldaten, Stammgäste der Schankstuben zu mischen -anonym Teil eines Schauplatzes zu sein, zuzuhören, aufzuzeichnen - all das wird dadurch zunichte, dass ich ein Mädchen bin, eine Frau, ständig der Gefahr von Angriffen und Körperverletzungen ausgesetzt. Mein verzehrendes  Interesse an Männern und ihrem Leben wird mir oft fälschlich als Wunsch, zu verführen, ausgelegt oder als Einladung zu Vertraulichkeiten. Ja, Gott, ich will mit möglichst jedem reden und möglichst tief. Ich möchte auf offenem Feld schlafen, in den Westen reisen, nachts mich frei bewegen können.« (S. Plath, zitiert nach R. Solnit, S. 281f)

»Es war die erschütterndste Entdeckung meines Lebens, dass ich kein wirkliches Recht auf Leben, Freiheit und Glück draußen im Freien besaß, dass die Welt voller Fremder war, die mich aus keinem anderen Grund als meines Geschlechts wegen zu hassen schienen und mir Schaden zufügen wollten, dass Sex zu schnell in Gewalt umschlug und dass kaum sonst jemand es als öffentliches statt als privates Problem ansah..... Ich begriff, dass viele Frauen derart erfolgreich sozialisiert worden waren, dass sie ihren Platz kannten und sich für ein konservativeres, geselliges Leben entschieden hatten, ohne zu verstehen, wieso. Das Verlangen, alleine spazieren zu gehen, war in ihnen ausgelöscht worden - doch nicht in mir.« (291)

Ich vermute, Rebecca Solnit widerspräche nicht, wenn man als Leser dieser Passage die Autorin mit der Vermutung konfrontierte, in diesen Sätzen die tieferen Beweggründe für ihr Buchprojekt »Wanderlust« entdeckt zu haben.

In den abschließenden Ausführungen der Autorin ist eine melancholische Stimmung auszumachen, die sich auf Leserinnen und Leser überträgt. Das »Goldene Zeitalter des Spaziergangs«, das bis vor einige Jahrzehnte währte, sei längst Vergangenheit. Gegangen würden fast nur noch kurze Strecken, nämlich die vom Auto zum Gebäude. Gehen als kulturelle Tätigkeit verkümmere zusehends. Gehen entspreche nicht mehr dem Lebensgefühl der meisten Menschen. Entkörperlichung des Alltagslebens sei die Folge.

Diesem Buch der Autorin Rebecca Solnit sind möglichst viele Leserinnen und Leser zu wünschen, damit diese ermutigt werden, die Besonderheiten der »Wanderlust« wieder oder ganz neu für sich zu entdecken.

Foto:


Info:
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/wanderlust-ebook.html

siehe auch:
https://www.weltexpresso.de/index.php/buecher/5286-lob-des-gehens