Wie dem Antisemitismus wieder der Boden bereitet wurde, Teil 1
Conrad Taler
Buxtehude (Weltexpresso) - Redaktionelle Vorbemerkung: In der Ausgabe vom 12. August hat unser Mitarbeiter Conrad Taler den „Mief in den besseren Kreisen“ mitverantwortlich gemacht für den immer wieder aufkeimenden Antisemitismus. Als Beispiel nannte er die Verleihung von Preisen an Bücher eines Kinderbuchautors mit Geschichtsbildern im Stile judenfeindlicher deutsch-völkischer Propaganda. Seine Rezension wurde 2004 erstmals in den Blättern für deutsche und internationale Politik“ veröffentlicht. Anschließend der erste Teil:
Über „Böhmacken“ und den böhmischen „Saustall“
Er sei in dieses Buch wie in eine Landschaft hinein gewandert, die für ihn Kindheit bedeute, schwärmt Peter Härtling im Vorwort zu Josef Holubs Roman für Kinder »Der rote Nepomuk«, erstmals erschienen 1993 im Beltz Verlag, Weinheim und Basel. Gerührt spricht er vom »Bubenparadies« der beiden Hauptfiguren, dem deutschen Knaben Josef und dem tschechischen Jirschi.
Könnte es sein, dass Heimweh nach der eigenen Kindheit dem liebens- und lesenswerten Peter Härtling den Blick verstellt hat? Nicht die Abenteuer der Romanfiguren Josef und Jirschi sind das Wesentliche in diesem Buch, sondern die Ereignisse kurz vor der Besetzung des Sudetenlandes durch die Truppen Adolf Hitlers im Jahr 1938. Dass der Verfasser ungeniert übelste Klischees aus der Rumpelkammer deutsch-völkischer Propaganda benutzt, dass er die Tschechen abschätzig als »Böhmacken« bezeichnet – ist ihm das wirklich nicht aufgefallen? Es ist ihm tatsächlich nicht aufgefallen, wie er nachträglich zerknirscht einräumte. Dazu später mehr..
»Der rote Nepomuk« ist eines von drei Büchern, die der aus Böhmen stammende Josef Holub nach der Wende im Osten für Kinder und Jugendliche im Westen geschrieben hat. Der zweite Band mit dem Titel »Lausige Zeiten«, erstmals 1997 im Beltz Verlag erschienen, spielt in einer »Lehrerbildungsanstalt«, bei der es sich in Wirklichkeit eine von den Nazis ins Leben gerufene „Napola“ handelt. Im dritten Band, der 2001 im Beltz Verlag herauskam, geht es um Josefs Erlebnisse in der alten Heimat nach Kriegsende. Die autobiografisch geprägte Romantrilogie umfasst die Jahre 1938 bis 1946, also jenen Zeitabschnitt, der die europäische Geschichte nachhaltig beeinflusst hat. Wer über diese Zeit redet und wem es dabei um Versöhnung geht, darf nicht das einseitige Geschichtsbild sudetendeutscher Volkstumskämpfer zugrunde legen, erst recht dann nicht, wenn er für Kinder und Jugendliche schreibt.
Natürlich wollen junge Menschen Freude haben beim Lesen, aber sie wollen auch richtig informiert werden. Gerade sie haben einen Anspruch auf Wahrheit; ihr Bild von der deutsch-tschechischen Nachbarschaft, um die es hier geht, wird schließlich ein Leben lang von den Eindrücken bestimmt werden, die ihnen bei der ersten Begegnung mit diesem hochkomplexen Thema vermittelt worden sind. Holubs »Roter Nepomuk« ist eingebettet in die politische Hochspannung nach dem Wahlsieg der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins im Mai 1938. Neunzig Prozent der drei Millionen Deutschen in der Tschechoslowakischen Republik haben damals ihre Stimme den Wegbereitern Hitlers gegeben. In der kleinen Stadt Neuern am Fuße des Böhmerwaldes, Schauplatz des Geschehens und Geburtsort Holubs, lebten in den dreißiger Jahren nur wenige Tschechen; ihr Anteil an der Bevölkerung betrug etwa zehn Prozent. Dennoch fühlten die Deutschen sich unter drückt. Holub illustriert das mit den Worten, die tschechischen Beamten wollten »überhaupt nicht Deutsch reden und verstehen, obwohl sie es alle können. Das kommt davon, weil der Masaryk die Deutschen in Böhmen überhaupt nicht mögen hat.«
Ausgerechnet den ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik als Deutschenhasser hinzustellen, ausgerechnet ihn, dessen Toleranz und humanistische Gesinnung selbst seine Gegner uneingeschränkt anerkannt haben, hat nichts mit der Wahrheit zu tun. Peter Härtling nennt ihn im Vorwort einen »großen Staatsmann«. Wem sollen die jungen Leser glauben? Aber vielleicht fällt ihnen irgendwann auf, dass Josef Holub selbst bei unwichtigen Dingen dummes Zeig redet, etwa bei der Frage, wann Steinpilze wachsen. Das ist im Spätsommer und im Herbst der Fall. Bei Josef Holub wachsen sie im Frühjahr und im frühen Sommer, wenn »die Maiblumen weiße Kugeln geworden« (sind) und »die Linden duften«.
Auch wenn es um tschechische Wörter geht, schwadroniert er einfach drauf los. Zum Beispiel schreibt er: »Zu mir sagt der Tschech podschgej, und das heißt ja bekanntlich komm mit«. Podschgej heißt auf Deutsch warte. Wenn Holub sagen will, dass etwas gestohlen wurde, spricht er von kralovaty. Das gibt es überhaupt nicht. Es gibt nur das ähnlich geschriebene Wort kralovati, was auf Deutsch wie ein König herrschen heißt.. Und wenn Holub Jirschi sagen lässt »Tu es nicht, Pepitschek«, dann ist auch das falsch; richtig muss es in diesem Fall heißen: »Tu es nicht, Pepitschku«. In keinem seiner drei Bücher bringt er es fertig, das tschechische Wort für Deutsche auch nur ein einziges Mal richtig zu verwenden.
„Höchste Zeit, dass Hitler kommt“
Diese Gleichgültigkeit im Umgang mit der tschechischen Sprache ist kennzeichnend für die Jahrhunderte alte deutsche Arroganz gegenüber dem tschechischen »Dienstbotenvolk«. Abwertend spricht Holub von »Böhmacken« wenn er die Tschechen meint. Selbst Josefs tschechischer Freund Jirschi bleibt nicht verschont. »Der Böhmack freut sich, wie er mich sieht«, heißt es über ihn. Josefs Vater legt er die Worte in den Mund: »Es wird zum Krieg kommen, wenn die Böhmacken nicht gutwillig nachgeben«. Über eine Wirtshausschlägerei schreibt er: »Die letzten herumsitzenden Böhmacken werden hinausgeschmissen.« Von den Ängsten der Tschechen angesichts zunehmender Drohgebärden des übermächtigen deutschen Nachbarn keine Zeile, kein Wort.
Dafür benutzt er immer wieder den von Hitler geprägten Begriff »Tschechei«, und immer wieder lässt er seine Figuren Henleinparolen aufsagen. »Es wird langsam unerträglich mit diesen Tschechen und höchste Zeit, dass der Hitler kommt.« »... es wird höchste Zeit, dass Hitler Ordnung macht in dem böhmischen Saustall«. »Die Stadt wartet auf den Hitler und die Leute wissen auch, wie dann alles besser wird.« Dass es unter den Deutschen auch Gegner Hitlers gab, nimmt Holub nur zum Anlass, sie lächerlich zu machen und zu verhöhnen. Der Vater der deutschen Hauptfigur ist ein »Sozi«. Über die Situation kurz vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht schreibt er: »Es gibt keine Sorgen mit der Nahrung. Sorgen machen sich nur die letzten paar Sozi und die Halbtschechen. Sie überlegen, wie sie es anstellen, dass sie noch schnell Henlein werden. Die drei Kommunisten sind schon weg, denn sie wissen, dass sie eingesperrt werden. Weil der Hitler kommt.«
Vom Strawanzer zum Minister
Ein paar Seiten weiter heißt es: »Plötzlich sind an allen Häusern Fahnen. Ein paar davon sind frühere Sozifahnen, auf die man den Kreis mit dem Hakenkreuz genäht hat.« Und weiter: »Die ganze Stadt schreit Heil, auch die Sozi.« Was für eine Infamie angesichts der Tatsache, dass etwa 6.000 sudetendeutsche Sozialdemokraten von den Nazis in Konzentrationslager gesperrt wurden! Auch über das Schicksal anderer Opfer geht Holub salbadernd hinweg. »Warum die Juden fortgehen, weiß kein Mensch. Nicht einmal mein Vater weiß es, und der kennt sich in der Welt und in der Politik gut aus«. Hätte es nicht nahe gelegen, den jungen Lesern an dieser Stelle zumindest ein wenig den Blick zu öffnen für die Tragödie, um die es ging?
Den Vater von Josef lässt Holub ganz schnell politisch das Hemd wechseln. »Er hat einen Rausch gehabt und sich in den Hof gestellt und alle Welt angeschrieen, dass die Henlein eventuell schon richtig sind und dass die Sozi eventuell auch ein paar Haderlumpen sind ... Die Sozi wird schon der Teufel holen und das ist kein großes Malör, denn es gibt sowieso keine Sozi mehr ... Da haben alle Nachbarn sofort gewusst, ... dass wir Henlein geworden sind.« Der Knabe Josef selbst hat damit ebenfalls keine Probleme. »Am Sonntag ziehe ich wie alle Henleinbuben weiße Kniestrümpfe an und der Willibald Traxler und ein Haufen anderer Henleinbuben sind jetzt meine Freunde«
Eines Tages wollen die Henleinbuben auf dem Gebäude der böhmischen Gendarmeriestation eine Hakenkreuzfahne hissen. Josef macht sofort mit. »Das ist nicht einfach ... Dann habe ich gesagt, dass ich die Fahne hinaushänge.« Über den Anführer Walter Steiner schreibt Holub: »Die Henleinbuben täten sich für ihn einsperren lassen. Sie mögen ihn. Dabei ist er nur ein ganz gewöhnlicher Strawanzer«, ein Herumtreiber also. Die Mutter rät Josef: »Bub, bleib von dem Taugenichts weg ... Hinterher meint sie dann immer noch, der Steiner bringt es noch zu etwas ... Und der Steiner ist ... sogar noch Minister geworden.« Tatsächlich wurde der »Taugenichts« noch Minister, zwar nicht in Hitlers Großdeutschem Reich, was nahe gelegen hätte, sondern im demokratischen Bayern. Sein richtiger Name: Walter Stain.
Wie Josef Holub wuchs der spätere Vertriebenenpolitiker Walter Stain in Neuern im Bayerischen Wald auf. Er war Mitglied der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins, setzte sich aus politischen Gründen nach Bayern ab und schloss sich dem von der NS-Führung gegründeten »Sudetendeutschen Freikorps« an. Standort seiner Einheit war Furth im Walde. Den Einmarsch des paramilitärischen Verbandes in Neuern beschreibt Holub mit den Worten: »Dann tut sich was. Unsere sind es, die vom Freikorps. Das sind die Männer, die über die Grenze nach Bayern desertiert sind, wie der Onkel Kuno und der Nouschel und der Walter Steiner.«
Neben Walter Steiner alias Walter Stain lässt Holub im »Roten Nepomuk« einen Mann namens Konrad Zogelmann auftreten. »Der Konrad Zogelmann nimmt einen Stuhl, haut ihn auf den Boden, dass er kein Stuhl mehr ist, und schreit, so macht er es mit allen Böhmacken und Sozi.« »Der Zogelmann wird aus der Beneschstraße eine Steinerstraße machen, wenn der Hitler erst einmal da ist.« »Der Zogelmann ist dem Hitler seine rechte Hand in der Stadt.« Alles nur Zufall? Wenige Kilometer von Neuern entfernt, in Neumark, kam 1913 der spätere Altnazi Siegfried Zoglmann zur Welt, nach eigenen Angaben seit 1928 »Mitglied der nationalsozialistischen Bewegung«, später »Chef der Befehlsstelle Prag der Reichsjugendführung« und SS-Untersturmführer.
Auch er machte nach Kriegsende im Westen Deutschlands Karriere, war Bundestagsabgeordneter der FDP und der CSU, gehörte zeitweilig dem Bundesvorstand der Sudetendeutschen Landsmannschaft an und wurde im Jahr 1973 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Schon in Holubs Welt war der Mann zu Höherem berufen: »Ich gehe zum Oberhenlein Zogelmann«, erzählt Josef, »aber der gibt sich mit so einem kleinen Hosenscheißer nicht ab. Er sagt, er hat Wichtigeres zu tun.«
»Der rote Nepomuk« wurde mit dem Peter-Härtling-Preis für Kinderliteratur und dem Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg ausgezeichnet und kam auf die Auswahlliste Deutscher Jugendliteraturpreis. (Fortsetzung folgt).
Fotos:
Cover
Der Ex-Nazi und spätere bayerische Minister Walter Stain bei einer Rede am 2. Oktober 1955 anlässlich des Herbsttreffens des Witikobundes, eines Sammelbeckens alter Nazis, in der Waldgaststätte „Hochablass“ bei Augsburg. Entnommen der 1962 erschienenen Broschüre „Die Henleins gestern und heute“ von Kurt Nelhiebel.