Wie dem Antisemitismus wieder der Boden bereitet wurde, Teil 3
Conrad Taler
Buxtehude (Weltexpresso) - In dem Buch »Schmuggler im Glück«, dem dritten Band seiner autobiografisch geprägten Romantrilogie, kehrt Josef Holubs Held Josef Böhm als ehemaliger Soldat der deutschen Wehrmacht in seine Heimatstadt Neuern im südwestlichen Böhmen nahe der bayerischen Grenze zurück. Dort haben sich die Verhältnisse von Grund auf verändert.
Die Sudetendeutschen müssen für Hitlers Verbrechen büßen und werden aus ihrer Heimat vertrieben. Viele sterben. Ein »heißes Pflaster« fortan für alle, die in Uniform für Hitler gekämpft haben. Wer den Schritt über die Grenze wagte, setzte sein Leben aufs Spiel. Bestenfalls landete er in einem Gefangenenlager. Wenn er das Glück hatte, unversehrt entlassen zu werden, musste er sich um Arbeit bemühen. Ohne Arbeitsnachweis bekam er keine Lebensmittelmarken. Und er musste sich bei der örtlichen Behörde anmelden; denn nur wer polizeilich gemeldet war, bekam einen Ausweis.
So war das bei Kriegsende 1945, ich schwöre, so war es. Holub hingegen tischt seinen jungen Lesern eine Geschichte auf, die mit der Wahrheit nichts zu tun hat. Weil sein Held keinen Ausweis besitzt, versteckt er sich ein Jahr lang bei den Eltern und lässt sich von ihnen durchfüttern. Wie sollte das gehen? Lebensmittel gab es nur auf Marken und die Zuteilungen für die Deutschen waren so bemessen, dass sie knapp zum Leben reichten. Wer keinen Ausweis hatte, musste einen beantragen. Aber Josef meldet sich nicht bei der örtlichen Behörde. Und weil er sich nicht meldet, bekommt er auch nicht die behördlich abgestempelte weiße Armbinde, die ihn als Deutschen kenntlich machen soll. Aber er braucht eine und stellt sich selbst eine her. Auch einen Ausweis macht er sich selbst.
Jeden Abend flaniert er durch die Stadt und hält Ausschau nach Mädchen. »Meine falsche Armbinde fällt nicht auf. Sie ist zu gut gemacht.« Und er verdient sich eine goldene Nase als Schmuggler. Ein weitläufiger tschechischer Verwandter namens Frantischek hat sich – folgt man der Schilderung des Autors – ausgerechnet den polizeilich nicht gemeldeten ehemaligen Wehrmachtssoldaten Josef als Partner für seine Schmuggelgänge ausgesucht. »Natürlich mache ich mit. Siebenhundertfünfzig Kronen gibt mir der Frantischek für jeden Gang«, lässt der Dampfplauderer Holub seinen Helden erzählen. 750 Kronen! Dafür mussten andere damals zwei Wochen Schwerstarbeit verrichten, immer darauf hoffend, die schwere Zeit überhaupt lebend zu überstehen. Nichts hatte ein Mensch in dieser Lage weniger im Sinn, denn als »Schmuggler im Glück« den »Böhmacken« auf der Nase herumzutanzen.
Die schlimme Lage der Deutschen vergisst Holub natürlich nicht, Gott bewahre! Er stellt die Tschechen auf eine Stufe mit den Nazis. Das liest sich so: »Du sollst nicht stehlen. Falsch! Wer hält sich heute noch an solche Gebote? Der Hitler hat die Länder und Menschen eines ganzen Erdteils zusammengestohlen. Millionen hat er sogar das Leben gestohlen. Das hat die Welt durcheinander gebracht. Und nun stehlen die anderen weiter.« Dass die Deutschen damals nicht mit dem Zug fahren durften, kommentiert Holub mit den Worten: »Wie früher die Juden. Hitler ließ sie auch nicht mit der Eisenbahn fahren. Außer nach Auschwitz.«
Was will Holub seinen jungen Lesern mit der obszönen Bemerkung sagen? Dass die Tschechen grausamer waren als Hitler, der die Juden immerhin nach Auschwitz fahren ließ, als sei Auschwitz schon immer das Ziel ihrer Sehnsucht gewesen? Auch an anderer Stelle stellt Holub das Nachkriegsgeschehen auf eine Stufe mit dem Rassenwahn der Nationalsozialisten und umgekehrt. Die Deutschen, schreibt er, hätten nur so viel Geld für ihre Arbeit bekommen, »dass sie gerade die Lebensmittel kaufen können, die sie vor dem Verhungern bewahren. Man nimmt da immer Maß am Hitler, wie der mit den Juden umgegangen ist.« Immerhin räumt er ein: »Die Deutschen werden nicht alle umgebracht, nur weil sie Deutsche sind, so wie die Juden umgebracht worden, nur weil sie Juden waren.«
Schon der erste Bundespräsident Theodor Heuss hat den »Aufrechnern« klar zu machen versucht, dass Gewalttätigkeit und Unrecht sich nicht für eine »wechselseitige Kompensation« eignen. Dies sei »das Verfahren der moralischen Anspruchslosen«, eine »verderbliche und banale Angelegenheit«. Gut fünfzig Jahre später schmuggelt einer dieser moralisch Anspruchslosen just diese verderbliche Angelegenheit als Bubenabenteuer getarnt unters Volk, als sei nichts gewesen.
Mir lag daran, dass Peter Härtling meine Rezension kennt, bevor sie in den »Blättern für deutsche und internationale Politik« veröffentlicht wurde. Ich schickte ihm den Text und schrieb ihm am 29. Februar 2004:
»Sehr geehrter Herr Härtling, Sie haben 1972 bei S. Fischer mein Buch ›Rechts wo die Mitte ist‹ lektoriert, in dem ich mich kritisch mit den Gegnern der Brandtschen Ostpolitik auseinander gesetzt habe. Die Art und Weise, in der Sie das taten, hat mich angenehm berührt. Sie waren Mitherausgeber der ›Neuen Rundschau‹, als in den siebziger Jahren zahlreiche meiner politischen Essays in dieser ruhmreichen Zeitschrift veröffentlicht worden sind. Sie sind in Olmütz zur Welt gekommen; mein Vater stammt aus Mährisch-Weißkirchen und meine Mutter aus Mährisch-Schönberg. Ich selbst kam im nordböhmischen Deutsch-Gabel zur Welt. Wir haben also quasi gemeinsame Wurzeln. Und schließlich der aktuelle Anlass: Sie haben das Vorwort zu Josef Holubs Buch ›Der rote Nepomuk‹ geschrieben. In meiner Kritik an Holubs Romantrilogie habe ich Ihr Vorwort als Einstieg benutzt. Alle drei Bücher habe ich, da mir die deutsch-tschechische Nachbarschaft am Herzen liegt, gründlich durchgearbeitet und bin auf schlimme Dinge gestoßen. Vielleicht finden Sie Zeit, mein Manuskript zu lesen. Ihre Meinung interessiert mich sehr.«
Peter Härtling antwortete mir handschriftlich am 2. März 2004: » Ihre Rezension führt mir wieder einmal vor, wie ein erstes, spontanes Urteil zum Vorurteil wird und keine Einsicht mehr zulässt. Ich habe den ›Roten Nepomuk‹ gleichsam gegen mein Gedächtnis und mein Gewissen gelesen; der Ton machte mir die Musik. Freundliche Grüße, Ihr Peter Härtling.«
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Info:
(Erstveröffentlichung 2004 in Blätter für deutsche und internationale Politik)