c herkunftDer Deutscher Buchpreis 2019, Teil 12

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) –  Das einzige, was einer Rezensentin an diesem Erinnungesjuwel von Saša Stanišic, HERKUNFT, mißfallen könnte, das ist, daß man einfach nichts zu kritisieren hat, auch nichts zu hinterfragen, wenig zu diskutieren, denn man ist mit allem, was man liest, einfach einverstanden, ja oft wehmütig, wenn es um das geschundene ehemalig Jugoslawien geht, oder voll Hochachtung, wie es dem jungen Saša gelingt, sich als Flüchtling in diesem Land durchzuschlagen, Integration zu leben und dann auch noch so ein poetisches Deutsch zu schreiben.

Das Einverständnis, was ja immer das Ende der Kritik, nicht der Besprechung bedeutet, gilt nicht nur dem Inhalt, wo Stanišic einen Strang seiner Geschichte im Klappentext selbst zusammenfaßt, wenn er vom literarischen Abschied von seiner dementen Großmutter spricht: „Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre.“ Das Einverständnis gilt auch der Form. Die 360 Seiten, die im wesentlichen autobiographischen Hintergrund erzählen, will man gar nicht auf den Wahrheitsgehalt abklopfen, auch nicht die Erinnerungen analog „dem Schleier der Erinnerung“ (Johannes Fried) in Frage stellen, das nimmt einem der Autor schon selbst ab, in dem er immer wieder selbst reflektiert, seine Rolle als Erzähler hinterfragt und den Wahrheitsgehalt der Erinnerung auch und einfach sehr intelligent und elegant mit dem Stoff und dem eigenen Schreibprozeß umgeht.

Darum ist es völlig egal, als was man dieses Buch bezeichnet, wie man die Erzählung charakterisiert, als Teilgeschichten, Mosaik oder Erzählteppich. Es bleibt ein Erinnerungs- und Recherchebuch, das seinen Anlaß, das sukzessive Entschwinden der Großmutter aus der Welt, erst mental, dann real, ernst nimmt, weil mit dieser Welt auch die Heimat des 1978 im bosnischen Višegrad geborenen Autors, die er als Vierzehnjähriger mit seinen Eltern Richtung Deutschland verlies, in Worten, Gedanken, Gefühlen wiederaufersteht. Das ist ein anrührender Vorgang, weil diese Kindheitsheimat nur noch in Worten, auf Bildern, Videos und eben in der Erinnerung vorhanden ist, so endgültig hat der Krieg, den die acht Nationen Jugoslawiens gegeneinander führten, und der Einzug des Kapitalismus Landschaft und Besiedelung zerstört.

Man möchte die vielen Geschichten und Erinnerungsfetzen am liebsten wiedererzählen, weil die Vielzahl der Ereignisse sich nicht anders zusammenfassen lassen als grob strukturiert als Erinnerungen an und Besuche in der Heimat oder eben das Ankommen als Flüchtling in Deutschland und das hiesige sich Einleben und deutsch leben. Und bei Letzterem gehen einem oft die Augen über. Da weiß man doch längst, wie absurd, wie bürokratisch, wie gemein, wie im Einzelfall auch wundervoll Ausländer- und Eingliederungsbehörden in den Existenzfragen von Bleiben oder Abschieben entscheiden und liest dann, daß es wirklich einem Sachbearbeiter in Heidelberg zu verdanken ist, daß der Junge 1998 als Student in Deutschland bleiben durfte, während die Eltern zum gleichen Zeitpunkt abgeschoben wurden. Und das Glück wiederholte sich, als eine Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde Leipzig ihm den Weg weist und er sich sein Visum abholen kann: „AUFENTHALTSERLAUBNIS. Erlischt mit Beendigung der selbständigen Tätigkeit als Schriftsteller und der damit verbundenen Aktivitäten.“ Auch wenn Saša Stanišic heute hoffentlich Deutscher und darauf nicht mehr angewiesen ist , sollte man ihn dennoch in diesem Sinne ständig im Lese-Schreib-Prozeß halten, damit die selbständige Tätigkeit als Schriftsteller nie zu Ende geht.

Wenn man noch etwas zur Sprache, zur literarischen Referenz von Saša Stanišic sagen müßte, macht er es einem mit seinem Quellenverzeichnis leicht: dreimal Karl Marx in der Gesamtausgabe aus dem Dietz Verlag Berlin, die jeder bessere Intellektuelle in Blau in seiner Bibliothek besitzt und Sämtliche Gedichte/Versepen des Joseph von Eichendorff, Werk in sechs Bänden, Deutsche Klassiker Verlag, Frankfurt am Main, die hoffentlich auch viele haben, die Gedichte. Ja, das Analysieren und Hinterfragen von Marx und die einfache Bildlichkeit, metaphorische Wortwahl und Einbezug von Natur und Seele von Eichendorff, das gibt auch die Sprache und innere Welt von Saša Stanišic ganz gut wieder.

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Info:
Saša Stanišic, Herkunft, Luchterhand 2010