Der Deutscher Buchpreis 2019, Die Finalisten im Frankfurter Schauspielhaus II, Teil 14
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der zweite Teil des Abends ging wie im Flug vorbei. Sicher, weil die beiden ersten Vorstellungen Fahrt aufnahmen, witzig waren mit vielen Lachern und dem Eindruck, daß man die Bücher fast selber gelesen habe. So auf jeden Fall äußerten sich Zuhörer, die noch kein einziges Buch vorher kannten, aber dann welche kauften.
Die Pause läßt Zeit, sich noch einmal die Erzählstrukturen der sechs Auserwählten zu vergegenwärtigen. Fragt man nämlich die, die die Bücher schon gelesen haben, welche Erzählperspektive die jeweiligen Romane haben, dann stutzen die allermeisten. Ja, wie war das noch? Raphaela Edelbauer läßt ihre Heldin, die Physikerin Ruth, als auktoriale Erzählerin wirken. Durchgängig? In der Erinnerung: ja. Norbert Scheuer seinen Exlehrer und Imker auch. Miku Sophie Kühmels KINTSUGI? Das wissen wir nicht, da wir dies Buch noch nicht gelesen haben, als einziges. Tonio Schachinger, der gleich drankommt, läßt seinen Fußballer Ivo von außen betrachtet denken, fluchen, ficken, aber das Eigenartige ist, daß wir immer irgendwie im Kopf und dem mentalen Zentrum Ivos mit dabeisitzen. Saša Stanišic nimmt bei seinem autobiographischem Text verständlicherweise die Ichform und Jackie Thomae, das ist hochinteressant und daraufhin müßte man sich ihre BRÜDER noch einmal im Detail anschauen, führt ihren zweiten Bruder Gabriel als auktorialen Erzähler ein, im Wechsel mit seiner Frau, die ebenfalls von sich selber spricht. Das Leben des Bruder Mick, dem wir am Anfang 215 Seiten folgen, wird dagegen von der Erzählstimme wiedergegeben, aber als Mick uns am Ende des Romans fast zwanzig Jahre später wiederbegegnet, ist er nicht nur ein Supertyp geworden, sondern spricht auch von sich als: ich.
Längst haben Christoph Schröder und Tonio Schachinger, der nun NICHT WIE IHR vorstellt, Platz genommen. Er ist der zweite Debütant in der Runde, allerdings sind es bei Edelbauer und Thomae auch erst die zweiten Romane, die hier vorliegen. Das Jahr 2019 ist insgesamt also eine Runde von überwiegend jungen Schriftstellern. Der Moderator läßt es sich nicht nehmen, den Romananfang mit dem ersten Satz zu zitieren, was bei Kritikern wohl beliebt ist. Wie er auf die Idee kam, einen Fußballprofi zum Thema zu machen. Weil sich der Fußball so verändert hat, antwortet dieser, was man mit professionalisiert nur unzureichend beschreibt. Es sind nicht mehr Fußballvereine, sondern Konzerne in Privatbesitz oder Aktiengesellschaften, wo die Spieler unter ständiger Beobachtung stehen. Deshalb hätten sie bei Gesprächen auch immer die Hand vor dem Mund, weil längst die Lippenleser alles ausbeuten, was über die hochbezahlten Spieler zu vermarkten ist. Genau das hat ihn interessiert, was sich in so einem Fußballstar abspiele.
Natürlich habe er sich sprachlich abgrenzen müssen und eben keine literarische Sprache verwenden dürfen. Die Fachsprache Fußball beherrsche er wie jeder, der Fußball schaut. Und sein Ivo, als Jugo früh nach Österreich gekommen, sei nicht dumm, sondern habe „die Welt des Fußballs“ und der „Sportvermarktungswelt“ durchschaut. Damit habe er übrigens der Kulturwelt etwas voraus. Er geht auch auf das Phänomen ein, daß die jungen Fußballer fast alle ganz jung heiraten, Familien gründen, Kinder haben, so als ob dies Haltepunkte in einem haltlosen Leben seien. Wenn sich Ivo mit seinen 27 Jahren schon in der midlife-Krise befinde, habe das mit der Zeit zu tun, in der er als Profi Spitzenverdiener sein könne, wie andere eben mit 50, zumal bei jedem Spiel eine Verletzung drohe, die die Karriere beenden könne. Zudem leben sie in überkommenen Familienstrukturen, wo der Spitzenfußballer allein für die Familie aufkomme, oft sogar für die Großfamilie. Der Roman werfe einen scharfen Blick auf die Leistungsgesellschaft, die zudem von den Spielern die Integrationsleistung erwarte, die die Gesellschaft selbst nicht leiste, wobei dem Ganzen ein Alltagsrassismus zugrunde liege.
Das Männerbild, das Männlichkeitsbild, also auch Ivos Bild von sich selber, sei toxisch. Leider wurde aber überhaupt nicht weiter eingegangen auf die Sexsucht, die Ivo phantasiert, wo Ficken und die dazugehörigen Bilder doch weite Teile des Buches bestimmten. Es blieb dabei, er sei ein Narziß mit dem Tunnelblick, dessen Ego überall geschmeichelt werde. Wie schade, dachte man, daß hier die Bücher und ihre Autoren hintereinander abgehandelt werden und die Querverweise unterbleiben. Die liegen nämlich auf der Hand. Das verstand der flexible und zugewandte Saša Stanišić sofort und fing bei der Vorstellung von HERKUNFT, Moderation Maike Albath, auch sofort mit Fußball an, seinem rot-weißen Schal und seinem Querulantentum von Kindheit an. Schade, hier hätten die vielen Fußballkarrieren aus dem ehemaligen Jugoslawien absolut hingepaßt, wie Ivo ist auch Stanišić gebürtiger Bosnier und sein Bonmot, daß, wenn die heute acht jugoslawischen Nationen noch eine Mannschaft bestückten, diese Fußballweltmeister würden, zeigt, was verlorenging.
Er ist ein Profi, dieser Saša Stanišić, der nicht nur in kurzen Worten die heiter-melancholische Sicht auf die Welt vermittelt, mitsamt den Erinnerungen an den Krieg beim Entschwinden seiner Großmutter aus dem Diesseits, sondern in seiner Lesung dann eine preiswürdigen Performance (Titelfoto) lieferte. „Die Stafette der Jugend“ (S. 238-241), die von den Bergen Sloweniens bis nach Belgrad in die Hände Titos gebracht wurde, verkündete er stehend am Pult und konnte sprachlich aufzeigen, was er zuvor als sein Wortquerulantentum bezeichnet hatte, wenn er nämlich konstatiert, daß er nicht wegen seiner guten Leistungen zum Stabträger ausgewählt wurde, sondern weil sein Vater ihn da irgendwie reinorganisiert hatte. Das ganze Gespräch, das eben auch die Flüchtlingssituation Anfang der 90er Jahre mit der heutigen verglich – heute hätte er mit seinen Eltern gar nicht kommen können, sondern wäre am Stacheldraht in Ungarn schon gescheitert – war so locker wie tiefgreifend, so unterhaltsam wie nachdenklich machend. Er verdankt sein Leben in Deutschland seinem Witz und einem Mitarbeiter der Ausländerbehörde dieselbe Behörde, die seine Eltern – qualifizierte Akademiker – abschoben.
Daß wir es schade finden, daß der interessante Roman BRÜDER von Jackie Thomae nicht so rüberkam, wie wir es bei einer anderen Vorstellung erlebten, die uns so motiviert hatte, daß wir ihn sofort lasen und die Eindrücke bestätigt sahen, hatten wir schon betont. Irgendwie ging es lange um schwarze Schafe, womit auch auf Hauttöne verwiesen wurde, genau so kann man die Titelbildgestaltung mit den Streifen von Beige bis Braun interpretieren. Einerseits ging es um das Aufwachsen der Autorin in Leipzig und Berlin – dabei fiel uns auf, daß bisher weder an diesem Abend noch sonst überhaupt nicht Thema war, daß von den sechs Finalisten zwei aus Österreich kommen, einer aus Bosnien nun naturalisierter Deutscher ist, ein waschechter Westdeutscher dabei ist, eine DDRgebürtige und mit Miku Sophie Kühmel aus Gotha eine aus dem heutigen Deutschland -, andererseits um die beiden Brüder, die Halbbrüder sind, weil ihr gemeinsamer Vater, den sie am Schluß des Buches kennenlernen, als Medizinstudent in der DDR zwei Frauen schwängerte, die, als er schon längst in Paris studierte, von ihm Kinder bekamen, ohne voneinander zu wissen, weshalb auch die Brüder erst spät voneinander erfahren.
Warum sie schreibe, warum sie über Männer schreibe? Sicher auch, um Männer besser zu verstehen, antwortete Jackie Thomae. Nein, sie hätte keinen Roman SCHWESTERN schreiben können, es mußten Männer sein, an denen sie das so unterschiedliche Großwerden und das noch unterschiedlichere Sein beider Brüder beschreiben konnte. Natürlich flösse in solche ein Buch auch Autobiographisches ein, aber die Fiktion überwiege. „Ich habe so viel zu sagen, ich brauche nicht mein eigenes Leben für Literatur!“ Genauso deutlich äußerte sie sich über die Erwartung an sie, sie werde schlecht über ihr Aufwachsen in und über die DDR schreiben, beispielsweise, daß es dort grässlich gewesen sei. Das kann sie nicht bedienen, weil sie eine glückliche Kindheit und Jugend hatte, auch wenn ihr leiblicher Vater erst spät in ihrem Leben auftauchte. Sie kann auch gut unterscheiden, wenn Menschen den Klassiker erfragen: „Woher kommst Du?“ Oder auch: „Darf ich Deine Haare anfassen?“, das können ganz harmlose, natürliche Fragen genauso sein wie rassistische Anmaßungen.
Jackie Thomae hat ihren Roman 2016 angefangen. Bis dahin fand sie die Atmosphäre in Deutschland immer entspannter werdend und den Rassismus abnehmend. Seitdem jedoch habe sich die Stimmung im Lande für ihr literarisches Personal und für uns alle verschlechtert.
Als wir uns beim Büchertisch nach den Verkäufen erkundigten, trafen wir viele mit BRÜDER unter dem Arm. Aber noch viel mehr wurde die Erste des Abends, Raphaela Edelbauer mit FLÜSSIGES LAND verkauft, aber auch Tonio Schachinger räumte mit NICHT WIE IHR ab. Wie immer spannend, wie unterschiedlich sich die Zuhörer darüber äußerten, was sie gehört und gesehen hatten, wen sie am besten, wen weniger ansprechend fanden. So ist das einfach. Literatur ist ein Angebot, das unterschiedlich wahrgenommen und unterschiedlich ankommt.
Wie die Jury entscheidet, welcher Roman den Deutschen Buchpreis gewinnt und damit seinen Autor zum Preisträger macht, wird am Montag, 14. Oktober, dem Vorabend der Frankfurter Buchmesse, im Kaisersaal des Frankfurter Römer bekannt gegeben.
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