KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für April 2013, Teil 2

 

Elisabeth Römer

 

Hamburg (Weltexpresso) – Drei Titel – ein englischer, ein amerikanischer und ein italienischer – sind das dritte Mal plaziert und drei neue kommen hinzu: ein brasilianischer auf Platz 1, ein italienischer auf Platz 7 und ein englischer auf dem 9. Rang.

 

 

Leider ist Giancarlo de Cataldos DER KÖNIG VON ROM aus dem Folio Verlag vom zweiten auf den sechsten Rang zurückgerutscht. Dabei wollten wir – nach dem Lesen – ausdrücklich begründen, warum er etwas Besonders ist. Nicht nur, daß er geschichtlich die Rolle rückwärts macht, indem de Cataldo, von Beruf Richter in Rom, seinen bisherigen Krimis um die berüchtigte Magliana-Bande einen Vorläufer hinzugesellt, der uns die Ausprägung des Charakters Libano/Libanese vor Augen führt, er setzt auch der fast romantisch zu nennenden Verbrecherschar um die Helden von gestern ein Denkmal.

Was das heißt? Nichts anderes, als daß man in den durchaus blutigen, gemeinen und voller Angst und Gewalt strotzenden Szenen, die hier alle in den Gefängnissen und den Bars und Banken von Rom spielen, doch noch den Menschen hinter den Verbrechern sieht und nicht – wie heute – das eiskalte Kartell, das von den Drogen über die Raubüberfälle flächendeckend fast schon maschinell tötet. Gleichzeitig sind die Romane de Cataldos dadurch auch Sittengemälde einer Zeit.



Hier beim KÖNIG VON ROM, den wir allerdings doch eher als PRINZ oder sogar KRONPRINZ VON ROM empfanden, denn wir bekommen ja den Aufstieg des erfolgsverwöhnten, aber auch strategisch klug agierenden Libaneses mit, geht es in die Siebziger Jahre zurück, als Libanese 1976 im Gefängnis auf den Camorraboß Pasquale 'o Miracolo, Statthalter des Cutoloclans in ROM , den gewollten guten Eindruck macht. Aber ach, auch Libanese ist mehr Schein als Sein, denn er gehört noch zu denen, die in einer Erfolgssträhne beim Glücksspiel, die ihm endlich die als Einstieg in das ganz große Geschäft benötigten 300 Millionen Lire als Eigenkapital sichern, nicht aufhört zu spielen, sondern weitermacht und alles wieder verspielt. Das beispielsweise ist mit dem Ausdruck 'romantisch' auch gemeint, denn heute ist das kriminelle Geschäft kontrolliert.



Eine interessante Figur, diese Giada, die der römischen Oberschicht entstammt, also Geld in Hülle und Fülle hat, aber gegen den Geldadel, also die Ausbeuter, auf der Straße mit den Arbeitern und Demonstranten kämpft. Sie verfällt auch nicht diesem Libanese, sondern hält ihn ganz schön am Gängelband, bleibt aber trotz des interessanten Ansatzes etwas blaß. De Cataldo erzählt hier Männergeschichten, in denen Frauen die Mütter, die Töchter oder die Geliebten, ach ja, und für die, die für Sex bezahlen, auch die Huren sind. Sonst aber keine Rolle spielen. Auch das hat etwas von romantischer Verbrecherrückerinnung, die dann im zuvor erschienenen ROMANZO CRIMINALE geschichtlich weitergeht.. Das Buch entzückt übrigens durch eine besonders schöne Gestaltung, die die dunklen Seiten von Rom nicht nur auf den Titel holen, sondern auch die Seiten rundherum schwarz aussehen lassen.



Auf Platz 7 folgt – neu - VATER.MÖRDER.KIND. von Giampaolo Simi, erschienen bei C.Bertelsmann. Auch der Italiener Simi ist hierzulande kein ganz Unbekannter, denn er stand 2010 mit CAMORRISTA auf der KrimiZEIT-Bestenliste. Vater. Mörder. Kind.(Original 2012: La notte alle mie spalle) ist sein achter Roman. Furio Guerri erzählt die Geschichte seines Untergangs als Familienvater und Vertreter aus doppelter Ichperspektive: als Monster, das er jetzt ist und als Mensch, der reflektiert, wie er Monster wurde. Das wollen wir das nächste Mal ausführlicher schildern.

Auf dem 8. Rang folgt MARMORMÄNNER von Matthias Wittekindt aus der Edition Nautilus. Das ist ein Buch, das wir mit nicht nachlassendem Interesse gelesen haben, obwohl uns erst einmal die Geschichte von vier verschwundenen Männern gar nicht anmachte, die noch dazu als Personen irgendwie zufällig aus der Arbeiter- und Bauernschicht stammend, kein Gesicht erhalten. Aber darum geht es gerade. Das Mißverhältnis zwischen der Bedeutung der jahrzehntelang nicht aufgefundenen drei übrigen Toten – der eine wurde gefunden – als Menschen und ihrer 40 Jahre währenden öffentlichen Aufmerksamkeit als MAMORMÄNNER treibt diesen hübschen kleinen und aufstrebenden Ort Fleurville um, das dicht der deutschen Grenze liegt.



So wie es laut Adorno kein richtiges Leben im falschen geben kann, so kommt das äußerlich so beschauliche, ja enorm prosperierende Fleurville im Inneren nicht zur Ruhe, weil Schweinereien passiert sind, die unter der Decke gehalten worden sind, bis sie explodieren und die wir hier auch nicht entlarven wollen. Wahrscheinlich ist es aber Marie - „Marie ist fünfunddreißig Jahre alt. Mit ihren schulterlangen, unten leicht eingedrehten schwarzen Haaren sieht sie aus wie eine hübsche Verbrecherin aus einem Film der vierziger Jahre“ (S. 11) – die unsere Begeisterung beflügelt. Witzig. Beim Lesen mußten wir bei dieser Figur immer wieder an Fred Vargas denken.



Dabei hat diese französische Erzählerin gar keine solche Ermittlerin – Marie ist 'nur' für die Technik und Pathologie zuständig, arbeitet aber als Kriminale -, so was fällt einem aber erst dann auf, wenn auf einmal Frauen das von einem Mann geschriebene Regiment übernehmen Irgendetwas an diesem Roman hat die Leichtigkeit und gleichzeitige geschichtliche und menschliche Tiefe, wie sie auch die Vargas vermittelt. Das ist so ungefähr das höchste Lob, das wir Matthias Wittekindt aussprechen können, der hier den zweiten Kriminalroman vorlegt und dessen SCHNEESCHWESTERN ein sensationelles Krimidebüt hatte – und natürlich auf der KrimiBestenListe stand.



Auf  Platz 9 folgt FLESH & BLOOD von Mark Peterson aus dem Rowohlt Verlag. Da wissen wir bisher nur, daß das Debüt des ehemaligen PR-Manns und jetzigen Lehrers mit bürgerlichem Namen Richard Bingham frei von Sentimentalität und mit nüchternem Blick vom Kampf zwischen der Organisierten Kriminalität und der mehr oder minder unorganisierten Polizei in den nicht-touristischen Drogenhöhlen und Schwulenklappen von Brighton erzählen soll. Das nächste Mal mehr, während wir Cathi Unsworth' OPFER aus dem Suhrkamp Verlag, das vom neunten auf den zehnten Platz geriet, schon die letzten Male einen starken, die Jugend, die Provinz und kaputte Familien analysierenden Roman nannten. 

 

 

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste Juni 2013

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(-)

Patrícia Melo: Leichendieb

Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita

Tropen, 208 S., 18,95 €

Corumbá, Grenze Brasilien - Bolivien. Dem namenlosen Icherzähler dieser moralischen Groteske fällt beim Angeln ein Flugzeug vor die Füße. Darin der sterbende Sohn eines reichen Viehzüchters und ein Kilo Koks. Welch ein Glück! Der Angler beginnt zu handeln: mit Stoff, mit Leichen, mit Zukunft. Melo ist Extraklasse.

2

2

(3)

Robert Hültner: Am Ende des Tages

btb, 320 S., 19,99 €

München/Thalbach/Chiemgau um 1929. Die Nazis scheinen abgeschlagen, Kajetan könnte zurück zur Polizei. Noch klärt er einen Justizirrtum auf, da kollidiert er mit der Politik. Ein Flugzeug mit übler Konterbande ist abgestürzt. Bayern tappst Richtung Ende. Historisch gewiefte, sprachlich ausgefeilte Krimikunst.

3

3

(4)

Olen Steinhauer: Die Spinne 

Aus dem Englischen von Friedrich Mader

Heyne, 492 S., 16,99 €

New York/Peking/Welt. Milo Weaver, Überlebender der ultrageheimen „Touristen“-Abteilung, will nur noch Familie. Aber ein Ex-Chef und sein chinesischer Gegenspieler setzen auf Rache. Steinhauer spielt meisterhaft die pazifische Karte. So sieht der Politthriller von morgen aus: weltumspannend, komplex, rasant.

4

4

(7)

Daniel Suarez: Kill Decision

Aus dem Englischen von Cornelia Hohlfelder-von der Tann

Rowohlt, 496 S., 12,99 €

Autonome Drohnen radieren amerikanische Städte, Schiffe und Softwaregenies aus. Ameisenforscherin McKinney und Spezialagent Odin mitsamt helfenden Raben leisten Bond-mäßig Widerstand gegen Cyberwar und militärisch-industriellen Komplex. Science Fiction? No, Sir: Verschärfte Realität.

5

5

(1)

Sara Gran: Das Ende der Welt

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Droemer, 368 S., 14,99 €

San Francisco/Brooklyn. Fünf Gitarren, ein Pokerchip, Schlüssel – schwache Hinweise auf den Mörder von Paul, Claire de Witts Exgeliebtem. Prekäre Autonomie der Detektivin: Claire zerstört sich fast auf der Suche nach Wahrheit, nach dem Kindertraum geliebt zu werden. Kaliforniens Norden: kalt und hip. Gran fasziniert.

6

6

(2)

Giancarlo de Cataldo: Der König von Rom

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Folio, 176 S., 19,90 €

Rom 1976. Machtvakuum in der Hauptstadt. Nicht die Camorra, nicht die Marseiller, keiner hat die volle Kontrolle. Junggangster Libano am Scheideweg: Mit Giada, der bourgeoisen Revoluzzerin, in die Boheme oder mit Gewalt ans große Geld? Libano lernt Verbrechen. Ruppiges Vorspiel zu Romanzo Criminale.

7

7

(-)

Giampaolo Simi: Vater. Mörder. Kind.

Aus dem Italienischen von Anja Nattefort

C.Bertelsmann, 304 S., 19,99 €

Toskana. Furio Guerri hat zwei Leben: Als Vater und Ehemann ist er aufstrebender Handelsvertreter. Wie und wozu er Monster wurde, weiß nur Furio genau. Simi nutzt die Doppel-Ich-Perspektive seines alles kontrollieren wollenden Erzählers, um tief in die Windungen kleinbürgerlichen Wahns zu dringen.

8

8

(5)

Matthias Wittekindt: Marmormänner

Edition Nautilus, 288 S., 16,90 €

Fleurville. Seit 40 Jahren nennt man sie „Marmormänner“. Einer lag als Wachsleiche am Bahndamm, die anderen drei sind perdu. Unruhe in der kleinen Stadt: Die Kleider eines Verschwundenen kommen ans Licht, ein Kind und seine Mutter werden entführt. Sorgsame Milieustudie über Vergessen, Verdrängen, Verschütten.

9

9

(-)

Mark Peterson: Flesh & Blood

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Rowohlt, 384 S., 9,99 €

Brighton. Cops gegen Gangsterbosse – die raue, schnelle Story passt wie die Faust ins Auge von Sussex. Im Drogen- und Vergnügungsparadies an Englands Südstrand findet DS Minter seine Bestimmung: Ermitteln in Elend und Dreck. Schnörkelloses Debüt. Peterson kennt sich aus.

10

10

(9)

 

Cathi Unsworth: Opfer

Aus dem Englischen von Hannes Meyer

Suhrkamp, 384 S., 14,99 €

Ernemouth, Norfolk. Privatdetektiv Sean Ward, im Polizeidienst verkrüppelt, rollt den Fall der „Hexe des Ostens“ erneut auf. 1983: Teenie-Rivalitäten eskalieren im Ritualmord. 2003: Alte Säcke verteidigen die die liebe Macht. Tolles Brit-Stück. Perfekt reanimierte Gothic-Atmo. Unsworth wiederentdeckt.

INFO.

 

Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.



Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenliste

- im NordwestRadio am Donnerstag, den 6.6. 2013 mit Tobias Gohlis gegen 8.50 Uhr im Nordwestradio Journal und in den Sendungen der Literaturzeit, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html

in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 6.6.2013 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste

Monatlich wählen achtzehn auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.



 Die Jury setzt sich zusammen aus: 

Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt

Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR

Gunter Blank, Sonntagszeitung

Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau

Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist, Plärrer , culturmag, DradioKultur

 

 

In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Viermal inzwischen darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die Ende Dezember herauskommt. und die wir für 2012 ebenfalls kommentierten. 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1208-der-beste-krimi-2012-bleibt-von-fred-vargas-die-nacht-des-zorns-aus-dem-aufbau-verlag



http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/1208-der-beste-krimi-2012-bleibt-von-fred-vargas-die-nacht-des-zorns-aus-dem-aufbau-verlag