KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für Juni 2013, Teil 1
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Ein Senkrechtstarter ist die Brasilianerin Patrícia Melo mit ihrem neuen Kriminalroman LEICHENDIEB, der aus dem Nichts auf Platz 1 geriet. Die Schriftstellerin ist aber keine gänzlich Unbekannte, denn sie erhielt 1998 den Deutschen Krimipreis für O MATADOR.
Aber gemessen an der Bedeutung, die sie in Brasilien hat, wo sie den wichtigsten Literaturpreis für INFERNO erhielt, kann sie hier noch zulegen. Wir wissen bisher nur, daß LEICHENDIEB aus dem Tropen Verlag eine moralische Groteske sein soll, in der ein namenloser Icherzähler sich immer tiefer ins Verbrechen verstrickt, während sein Lamentieren und Rechtfertigen immer fadenscheiniger werden. „Dieser Dieser Antiheld ist der Mitläufer par excellence: Nie ist er verantwortlich für das, was er tut. Stilistisch scharf zugespitztes Porträt, zugleich sehr spannend. Das nächste Mal mehr.
Auf Platz 2 vorgerückt ist Robert Hültner, AM ENDE DES TAGES, erschienen bei btb. Kann schon sein, daß ab demnächst historische Aufarbeitung der NS-Zeit nur noch in Krimiform möglich ist. Und wenn diese Kriminalromane so gut erzählt sind, wie dieser, lernt man über die inneren Strukturen von Schutzbünden, SA, SS und eben die der Nationalsozialisten mehr als in geschichtlichen Lehrbüchern. Es geht also um den Kommissar Kajetan, dem Ende der 20er Jahre die infiltrierten Nazis bei der Polizeibehörde nicht nur das Leben schwer gemacht hatten, sondern die es ihm sogar nehmen wollten. Allerdings gelang ihm die Flucht und sein Häscher mußte in den Bergen daran glauben – nein, Kajetan hat sich nicht die Hände schmutzig gemacht – und, da Kajetan ihm kurzentschlossen seinen Ausweis unterschob, wird der Tote als Kajetan beerdigt.
Und so beginnt der Roman, daß der papierlose Kajetan im Münchener Einwohnermeldeamt auftaucht und einen Ausweis haben will, was nicht geht, denn er ist ja tot. Das ist nicht nur komisch, sondern ein kleines Meisterstückchen, das Hültner hier erzählt und wir sofort Karl Valentin imaginieren. Und dann bietet der Autor gleich zwei Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein können, aber beide im Gebirge spielen. Der politische Wind hat gedreht und die Nazis sind abgemeldet. Das macht den neuen Kripoleiter Rosenauer auch so sicher, daß er den von den Nazis geschaßten Kajetan wieder einstellen möchte, was etwas dauert, weshalb er ihm einen Job vermittelt. Er soll die Unschuld eines seit 10 Jahren im Gefängnis Sitzenden durch eine erneute Zeugenbefragung und weitere Recherchen beweisen.
Währenddessen treibt sich im Gebirge auch der Privatermittler Kull aus Berlin zu schaffen, der als zweite Geschichte, einen mysteriösen Flugzeugabsturz für das Außenministerium zu klären hat, denn Gustav Stresemann hat die Finger und vor allem viel Geld drinnen. Mit diesem Kull hat Hültner eine Figur geschaffen, die so witzig wie irre ist und durchschlagend dazu, die für viele Krimis gut wäre, wenn...nein, das kann man noch nicht verraten, auf jeden Fall läßt dieser Kull unseren guten Kajetan sehr oft ganz schön alt aussehen. Denn, das merken wir schon bald, Kajetan ist einfach ein Guter, der das Böse im anderen lange verdrängt, was ja menschlich ein netter Zug ist, aber gefährlich fürs Überleben. Das Wichtigste sind die Zustände, die man mitbekommt. Wie auf dem Land nicht geredet wird und in der Stadt zu viel, beispielsweise. Ein richtige guter Krimi, dessen zwei Geschichten am Ende in eine verwoben sind.
Auch Ole Steinhauers DIE SPINNE , erschienen im Heyne Verlag, ist um eins nach vorne gerückt und belegt nun den dritten Rang. Das ist ein richtiger Politthriller, der in die Vollen geht, wenn schon rund 30 Agenten der CIA umgebracht worden sind und Milo Weaver der nächste sein soll.Dabei wollte er doch aussteigen und endlich sein Familienleben pflegen. Stattdessen muß er Waffenpflege betreiben und seinen Gegnern zuvorkommen.Auf den 4. Platz ist vom siebten Daniel Suarez mit KILL DECISION aus dem Rowohlt Verlag gerutscht. Da übrigens finden wir auf dem Titel die Spinnen im Bilde, die Ole Steinhauer nur verbal im Titel trägt. Das stimmt aber nicht ganz, denn diese Spinnen sind Drohnen, die gerade einen blutigen Angriff auf eine Pilgerstätte im Irak unternehmen. Sage noch einer, daß sich Krimis nicht am Puls der Zeit befinden.
Daß allerdings ausgerechnet Frank Schirrmacher den Autor als den „Jules Verne des digitalen Zeitalters“ bezeichnet, finden wir dann schon witzig. Helden sind die Ameisenforscherin Mc Kinney und Specialagent Odin, die gegenüber dem hochgerüsteten Gegner zeigen, wie man mit Köpfchen und Mut auch dem neue Cyberzeitalter widersteht.
Warum Sara Gran mit DAS ENDE DER WELT aus dem Verlag Droemer, die im Mai den ersten Rang einnahm, von dem sie vom dritten aufstieg, diesmal auf den 5. Platz rutscht, gehört zu den Unerfindlichkeiten, an die man sich bei der KrimiBestenListe gewöhnen muß. Wir haben das Buch ausführlich gewürdigt und fanden es dennoch nicht so überzeugend wie ihr erstes von der Ermittlerin Claire de Witt. Sara Gran ist zusammen mit Giancarlo de Cataldo: Der König von Rom und Cathi Unsworth: Opfer nun das dritte Mal dabei. Die Plätze 6 bis 10 in: Fortsetzung folgt.
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Die KrimiZEIT-Bestenliste Juni 2013
Lfd. Nr. |
Rang |
Vor-monat |
Titel |
1 |
1 |
(-) |
Patrícia Melo: Leichendieb Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita Tropen, 208 S., 18,95 € Corumbá, Grenze Brasilien - Bolivien. Dem namenlosen Icherzähler dieser moralischen Groteske fällt beim Angeln ein Flugzeug vor die Füße. Darin der sterbende Sohn eines reichen Viehzüchters und ein Kilo Koks. Welch ein Glück! Der Angler beginnt zu handeln: mit Stoff, mit Leichen, mit Zukunft. Melo ist Extraklasse. |
2 |
2 |
(3) |
Robert Hültner: Am Ende des Tages btb, 320 S., 19,99 € München/Thalbach/Chiemgau um 1929. Die Nazis scheinen abgeschlagen, Kajetan könnte zurück zur Polizei. Noch klärt er einen Justizirrtum auf, da kollidiert er mit der Politik. Ein Flugzeug mit übler Konterbande ist abgestürzt. Bayern tappst Richtung Ende. Historisch gewiefte, sprachlich ausgefeilte Krimikunst. |
3 |
3 |
(4) |
Olen Steinhauer: Die Spinne Aus dem Englischen von Friedrich Mader Heyne, 492 S., 16,99 € New York/Peking/Welt. Milo Weaver, Überlebender der ultrageheimen „Touristen“-Abteilung, will nur noch Familie. Aber ein Ex-Chef und sein chinesischer Gegenspieler setzen auf Rache. Steinhauer spielt meisterhaft die pazifische Karte. So sieht der Politthriller von morgen aus: weltumspannend, komplex, rasant. |
4 |
4 |
(7) |
Daniel Suarez: Kill Decision Aus dem Englischen von Cornelia Hohlfelder-von der Tann Rowohlt, 496 S., 12,99 € Autonome Drohnen radieren amerikanische Städte, Schiffe und Softwaregenies aus. Ameisenforscherin McKinney und Spezialagent Odin mitsamt helfenden Raben leisten Bond-mäßig Widerstand gegen Cyberwar und militärisch-industriellen Komplex. Science Fiction? No, Sir: Verschärfte Realität. |
5 |
5 |
(1) |
Sara Gran: Das Ende der Welt Aus dem Englischen von Eva Bonné Droemer, 368 S., 14,99 € San Francisco/Brooklyn. Fünf Gitarren, ein Pokerchip, Schlüssel – schwache Hinweise auf den Mörder von Paul, Claire de Witts Exgeliebtem. Prekäre Autonomie der Detektivin: Claire zerstört sich fast auf der Suche nach Wahrheit, nach dem Kindertraum geliebt zu werden. Kaliforniens Norden: kalt und hip. Gran fasziniert. |
6 |
6 |
(2) |
Giancarlo de Cataldo: Der König von Rom Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl Folio, 176 S., 19,90 € Rom 1976. Machtvakuum in der Hauptstadt. Nicht die Camorra, nicht die Marseiller, keiner hat die volle Kontrolle. Junggangster Libano am Scheideweg: Mit Giada, der bourgeoisen Revoluzzerin, in die Boheme oder mit Gewalt ans große Geld? Libano lernt Verbrechen. Ruppiges Vorspiel zu Romanzo Criminale. |
7 |
7 |
(-) |
Giampaolo Simi: Vater. Mörder. Kind. Aus dem Italienischen von Anja Nattefort C.Bertelsmann, 304 S., 19,99 € Toskana. Furio Guerri hat zwei Leben: Als Vater und Ehemann ist er aufstrebender Handelsvertreter. Wie und wozu er Monster wurde, weiß nur Furio genau. Simi nutzt die Doppel-Ich-Perspektive seines alles kontrollieren wollenden Erzählers, um tief in die Windungen kleinbürgerlichen Wahns zu dringen. |
8 |
(5) |
Matthias Wittekindt: Marmormänner Edition Nautilus, 288 S., 16,90 € Fleurville. Seit 40 Jahren nennt man sie „Marmormänner“. Einer lag als Wachsleiche am Bahndamm, die anderen drei sind perdu. Unruhe in der kleinen Stadt: Die Kleider eines Verschwundenen kommen ans Licht, ein Kind und seine Mutter werden entführt. Sorgsame Milieustudie über Vergessen, Verdrängen, Verschütten. |
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9 |
9 |
(-) |
Mark Peterson: Flesh & Blood Aus dem Englischen von Karen Witthuhn Rowohlt, 384 S., 9,99 € Brighton. Cops gegen Gangsterbosse – die raue, schnelle Story passt wie die Faust ins Auge von Sussex. Im Drogen- und Vergnügungsparadies an Englands Südstrand findet DS Minter seine Bestimmung: Ermitteln in Elend und Dreck. Schnörkelloses Debüt. Peterson kennt sich aus. |
10 |
10 |
(9)
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Cathi Unsworth: Opfer Aus dem Englischen von Hannes Meyer Suhrkamp, 384 S., 14,99 € Ernemouth, Norfolk. Privatdetektiv Sean Ward, im Polizeidienst verkrüppelt, rollt den Fall der „Hexe des Ostens“ erneut auf. 1983: Teenie-Rivalitäten eskalieren im Ritualmord. 2003: Alte Säcke verteidigen die die liebe Macht. Tolles Brit-Stück. Perfekt reanimierte Gothic-Atmo. Unsworth wiederentdeckt. |
INFO.
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenliste
- im NordwestRadio am Donnerstag, den 6.6. 2013 mit Tobias Gohlis gegen 8.50 Uhr im Nordwestradio Journal und in den Sendungen der Literaturzeit, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html
in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 6.6.2013 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste
Monatlich wählen achtzehn auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt
Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Gunter Blank, Sonntagszeitung
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist, Plärrer , culturmag, DradioKultur
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Viermal inzwischen darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die Ende Dezember herauskommt. und die wir für 2012 ebenfalls kommentierten.