kpm Alte Bibliothek 1BLINKIST - der einfache und nicht ganz billige Weg zum Nichtwissen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wie sinnvoll ist der Gebrauch von Wikipedia? Auf diese Frage gibt es nur eine richtige Antwort:

Er ist es nur dann, wenn man bereits erheblich mehr über ein Fachgebiet gelernt hat, als in Wikipedia darüber zu finden ist. Denn lediglich erhebliche Vorkenntnisse gestatten es, schwache und irreführende (offensichtlich aus anderen Quellen übernommene und stümperhaft gekürzte oder veränderte) oder gar falsche (vielfach veraltete) Darstellungen zu erkennen. Die wenigen positiven Ausnahmen erstrecken sich über so viele Seiten, dass die Lektüre der Originale, die in den Quellen genannt sind, weiterführender ist.
Ähnliches gilt für den kostenpflichtigen Internetdienst „Blinkist“, wo man knappe Zusammenfassungen von derzeit rund 3.000 populärwissenschaftlichen Sachbüchern findet. WPO-Kollege Hanswerner Kruse hat in seinem Beitrag „Fastfood - Lektüre oder Lesehilfe?“ diese Anregungen gelobt. Ich sehe das kritischer und will es auch begründen.

Sachbücher, genauer gesagt: deren Autoren, die dem Leser (Frauen und Männern) wissenschaftliche Erkenntnisse in allgemeinverständlicher Weise vermitteln wollen, befinden sich grundsätzlich in der Gefahr, komplexe und für Außenstehende schwer verständliche Einzeldaten und Zusammenhänge so stark zu reduzieren, dass letztlich nur eine völlig unwissenschaftliche Hülle übrig bleibt. Diese dient weder der Allgemeinbildung noch versetzt sie jemanden in die Lage, sich am wissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Wer die in Sachbüchern anzutreffenden Kompromisse zwischen Wissenschaftlichkeit und Verständlichkeit noch weiter strafft, wie „Blinkist“ das tut, ersetzt notwendige fachübergreifende Kenntnisse durch Oberflächlichkeit. Dadurch werden interessierte Laien zu Unqualifizierten, gar zu Bildungsfernen abgestempelt.

Hanswerner Kruse nennt vier Beispiele, die er für gelungene Kurzfassungen hält: Hubert Filsers „Menschen brauchen Monster“ (2017 bei Piper erschienen), David Quammens „Die neuen Seuchen. Warum wir alle in Gefahr sind“ (2015 im Pantheon Verlag/Verlagsgruppe Random House), Doris Dörries „Leben, schreiben, atmen. Eine Anleitung zum Schreiben“ (2019 bei Diogenes) und Giulia Enders‘ „Darm mit Charme. Alles über ein unterschätztes Organ“ (2017 bei Ullstein).

Filsers Buch über die Projektion menschlicher Ängste in Fantasiegestalten (Monster) strotzt vor unzulässigen Übertragungen persönlicher Erlebnisse in allgemeingültige Erfahrungen und vor fachwissenschaftlichen Fehlern, was von der Kritik auch überwiegend bemerkt wurde. Kurz: Ein Buch für die Tonne – sowohl als Original als auch in der Blinkist-Kurzfassung.
Im Gegensatz zu Filsers Machwerk ist Quammens Beschreibung über neue Seuchen ein durchweg guter Leitfaden zur Erstorientierung. Nicht zuletzt seine Verweise auf die Zerstörung der Ökosysteme durch den Menschen, welche künftigen gefährlichen Zoonosen den Weg öffnet, sind positiv hervorzuheben. Das Buch versteht sich letztlich als Leitfaden, der zur intensiveren Beschäftigung mit dem Thema anregen will. Es ist völlig ungeeignet für eine 15-Minuten-Zusammenfassung, die lediglich Schlagzeilen liefern kann.
Doris Dörries „Anleitung zum Schreiben“ (die auch ein Plädoyer für den Gebrauch der Handschrift ist, weil diese die Fähigkeit des Gehirns zur Abstraktion unterstützt) zählt zu jenen Büchern, bei denen man auch zwischen den Zeilen lesen muss. Bei der Lektüre des Originals entsteht eine Aura des Kunstvollen, die bei der Blinkist-Reduktion ihr Wesentliches verliert.
Die Ärztin Giulia Enders wird sich wegen ihres reißerisch aufgemachten Buchs spätestens in zwanzig Jahren schämen – wenn sie auf ein bis zwei Jahrzehnte proktologischer Praxis zurückblicken kann. Denn sie verpackt in „Darm mit Charme“ biologische Binsenweisheiten in sprachlichen Luftblasen. Im Blinkist-Raffer wird daraus ein Spickzettel noch unterhalb des Niveaus der „Apotheken-Umschau“. Es gibt längst eine Reihe von Informationen für Laien (z.B. im Thieme Verlag), die sich dem Thema in angemessener Weise widmen. Und das richtige Maß ist notwendig bei Büchern, die sich mit der Gesundheit des Menschen befassen.

Erst vor wenigen Wochen erschien ein Sachbuch, das sich wichtigen Veröffentlichungen aus der belletristischen Weltliteratur annähert. Kriterium sind die ersten Sätze eines Romans. Entstanden ist auf diese Weise ein Wegweiser zu 249 Werken. Wie jedes gute Buch lässt es sich nicht komprimieren. Genau so wenig wie die Bücher, auf die es verweist. Einige unter den Literaturfeinschmeckern haben vermutlich noch die misslungenen Versuche aus der Reihe „Readers’ Digest Auswahlbücher“ in Erinnerung, die bis heute als Abschreckung gelten. Verfasst hat diese Untersuchung Professor Peter-André Alt, der als Titel den ersten Satz aus Kafkas „Der Prozess“ verwendete: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben...“. Erschienen ist es bei C. H. Beck in München.

Wo aber soll man sich bei der Auswahl von Lektüre mit wissenschaftlichen Ansprüchen orientieren?

Eine sehr gute Adresse ist der zweimal im Jahr erscheinende „Wissenschaftliche Literaturanzeiger“. Er wird redaktionell betreut vom Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen und dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Neben rein fachwissenschaftlichen Neuerscheinungen aus Germanistik und ihren verwandten Wissenschaften werden auch Sachbücher beurteilt. Er ist auch online verfügbar.

Im philosophischen Bereich einschließlich ihrer Grenzgebiete ist der „Philosophische Literaturanzeiger“ zu nennen. Die Redaktionen sind beim Philosophischen Institut der RWTH in Aachen und dem Seminar für Philosophie der Universität Koblenz-Landau in Koblenz angesiedelt.

Im naturwissenschaftlichen Bereich ist die populärwissenschaftliche und anspruchsvolle Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“ hervorzuheben, die in der Verlagsgruppe Springer Nature erscheint. Sie ist die deutschsprachige Ausgabe der angesehenen US-Zeitschrift „Scientific American“.

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