Eine Nachbetrachtung zum Gerhart-Hauptmann-Jubiläum 2012

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im Jahre 1962, als man Gerhart Hauptmanns 100. Geburtstags gedachte, veröffentlichte Rolf Michaelis sein Buch „Der schwarze Zeus. Gerhart Hauptmanns zweiter Weg“, worin er sich darum bemühte, den „unbekannten Gerhart Hauptmann“, den Autor klassizistischer und neuromantischer Versdramen, neben dem allseits anerkannten und vielgespielten Gesellschaftsdramatiker, wieder stärker ins Bewußsein der literarischen Öffentlichkeit zu rücken.

50 Jahre später, im Jahr des 150. Geburtstags Gerhart Hauptmanns und hundert Jahre nach der Nobelpreisverleihung an ihn, sah die Situation durchaus ungünstiger aus: So schrieb Jens Malte Fischer in seiner Besprechung von Peter Sprengels „Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie“ (C. H. Beck Verlag. München 2012) in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. 10. 2012 (vgl. hierzu: SZ Nr. 244 vom 22. 10. 2012, S. 14), man könne Gerhart Hauptmann beim Vergessenwerden zusehen. Ob dabei das allmähliche Verschwinden Hauptmannscher Dramen von den Bühnen oder seiner erzählerischen Werke aus dem Lesekanon der Schulen und Universitäten allein Hauptmanns zwiespältiger Rolle im Nationalsozialismus zuzuschreiben sei, wollte er dahingestellt sein lassen.

 

Betrachtet man sich allerdings die Rezeption der Werke Gerhart Hauptmanns in ihrer Gesamtheit genauer, so wird man durchaus feststellen, daß im Grunde genommen die Geschichte von Hauptmanns Ruhm und Erfolg ein einziges Rätsel darstellt.

 

Im Nachwort zu seiner Vervollständigung des Schillerschen „Geistersehers“ schrieb Hanns Heinz Ewers: "Es gibt einen großen deutschen Dichter, dem seit vielen Jahren nichts mehr glücken will. Jeden großen Wurf von ihm griff man maßlos an; aber einmütig lobt nun die gesamte Presse seine oft kindlich schwachen Elaborate, seit man weiß, daß er doch unter keinen Umständen mehr Erfolg haben kann." (vgl. hierzu: Der Geisterseher. Aus den Papieren des Grafen O***. I. Teil hrsg. v. Friedrich von Schiller. II. Teil hrsg. v. Hanns Heinz Ewers. München 1922, S. 520 / 521).

 

Wer das persönliche Verhältnis zwischen dem Dichter der „Weber“ und dem Dichter der „Alraune“ überschaut, wird unschwer in diesen Zeilen eine zwar überspitzte, aber bezüglich der Rezeption der Hauptmannschen Dramen zumindest im Kern zutreffende Beschreibung der Situation Gerhart Hauptmanns ab Beginn der 1920er Jahre erblicken können.

 

Seine naturalistischen Anfänge („Vor Sonnenaufgang“, „Die Weber“, „Der Biberpelz“) bescherten ihm als Dramatiker ungewollte Skandalerfolge. Hauptmann stellte, wie man es gemeinhin formuliert, soziale Mißstände ungeschönt auf die Bühne – bloße ästhetische Provokation oder gar Aufrufe zum gesellschaftlichen Umsturz lagen ihm fern. Die Sozialdemokratie hob ihn, dem Wilhelm II. die Verleihung des Schillerpreises verwehrte und dessentwegen der Monarch seine Loge im Deutschen Theater kündigte, zeitweise auf ihren Schild, tat sich aber gleichwohl schwer mit seinen der Neuromantik verpflichteten Werken, die er de facto gleichzeitig mit seinen Schöpfungen auf dem Gebiete des Naturalismus hervorbrachte. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn im Jahre 1912 sollte zwar einen wichtigen Markstein auf seinem Weg zum lebenden Klassiker bedeuten – einer Stilisierung, der er selbst nicht zuletzt durch seine im Laufe der Jahre immer stärker forcierte äußere Ähnlichkeit mit Goethe Vorschub leistete – , konnte jedoch nicht verhindern, daß er sich 1913 mit seinem „Festspiel in deutschen Reimen“ anläßlich der Breslauer Jahrhundertfeier mit nahezu sämtlichen Parteiungen überwarf – gerade weil er es dieses Mal allen rechtmachen wollte, löste er fast überall wütende Proteste aus, wie Peter Hacks die Angelegenheit deutete (vgl. hierzu: Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst. Hamburg 1996, S. 431 – 433).

 

Die Weimarer Republik sah in ihm, der zeitweilig als Kandidat für das Amt des Reichspräsidenten im Gespräch war, durchaus so etwas wie ihren ungekrönten König. Hauptmann hatte sich durch seine sozialkritischen Dramen in den Rang eines Olympiers emporgeschrieben – sieht man von wenigen Ausnahmen wie seinem letzten großen Gesellschaftsdrama „Vor Sonnenuntergang“ ab, feierten seine jüngeren Dramen indes kaum mehr als Achtungserfolge, und seinem erzählerischen Werk, ungeachtet tatsächlicher qualitativer Schwankungen, wurde, den frühen „Bahnwärter Thiel“ vielleicht ausgenommen, selten eine besondere Würdigung zuteil. Karl S. Guthke meinte, daß ihm das Publikum, ganz gleich, ob er Schund oder Geniales schrieb, kritisch die Treue gehalten habe – denn der Schund war eben Schund von Hauptmann (vgl. hierzu: Karl S. Guthke: Gerhart Hauptmann. Weltbild im Werk. Zweite, vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. München 1980, S.17).

 

Merkwürdigerweise schien tatsächlich immer der unbequeme, frühe Naturalist im Mittelpunkt des Interesses zu stehen – sofern man ihn nicht zum schlesischen Heimat- oder Mundartdichter verniedlichte – ; auch, wenn man sich mit den entsprechenden Werken schwer tat. Obwohl es nicht an Versuchen fehlte, den Klassizisten und Neuromantiker Hauptmann aufzuwerten, den Versepiker, Lyriker und Erzähler, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß Hauptmanns Vielseitigkeit – durchaus bezeichnend! – geradezu mechanisch den Vorwurf des Eklektizismus zu provozieren schien und kaum als Anzeichen literarischer Experimentierfreude gewertet wurde. Alfred Döblin verspottete Hauptmanns (vermeintlich) burleskes Byzantinertum (vgl. hierzu: Alfred Döblin: Ein Kerl muß eine Meinung haben! Berichte und Kritiken 1921 - 1924. Olten / Freiburg im Breisgau 1976, S. 105), Robert Musil warf ihm das Schwelgen im Nebulösen vor (vgl. hierzu: Robert Musil: Gesammelte Werke, 2. Band (Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek 1978, S. 1443 / 1444), und Herwarth Walden erschien er lediglich noch als edler „Goethe aus Honigkuchen mit Zuckerguß“ (zitiert nach: Wolfgang Leppmann: Gerhart Hauptmann. Leben, Werk und Zeit. Berlin 1995, S. 318).

 

Die Nationalsozialisten sahen in Hauptmann, der nicht auf Konfrontationskurs mit dem braunen Regime zu gehen beabsichtigte, sondern in der Mitwirkung die Lösung der Probleme sah, nie einen der ihren, bedienten sich des großen Namens gleichwohl immer wieder gerne – nicht zuletzt anläßlich der Bombardierung Dresdens.

 

Die im Entstehen begriffene DDR wußte durch die Person ihres späteren Kulturministers Johannes R. Becher den greisen Hauptmann noch für sich zu vereinnahmen.

 

Eine Sonderstellung in der Rezeption Gerhart Hauptmanns nimmt in mehrfacher Hinsicht Thomas Mann ein. Hauptmann, der auf die durch ihn inspirierte Figur des Pieter Peeperkorn in des Jüngeren „Zauberberg“ zeitweise empfindlich beleidigt reagierte, sich aber gleichwohl geschmeichelt fühlte, da diese Gestalt zweifellos die überragende Figur des Romans darstellte, und der sich später dafür aussprach, Thomas Mann den Nobelpreis zu verleihen – wenn auch nicht aus rein selbstlosen Beweggründen; drohte doch weiterhin die Gefahr einer Vergabe des Nobelpreises an den einstigen Weggefährten und späteren Konkurrenten Arno Holz! – , war für den Autor der „Buddenbrooks“ zeitlebens Faszinosum wie Stein des Anstoßes. Die ersten öffentlichen Äußerungen Thomas Manns über den Älteren, den er den „König der Republik“ (Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden, 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1974, Bd. XI, S. 812) nannte, sowie entsprechende Tagebucheintragungen lassen die Anerkennung für den offiziellen Hauptmann, viel mehr aber die Begeisterung für den Hauptmann weniger bekannter Stücke wie „Kaiser Karls Geisel“, „Der weiße Heiland“ oder „Indipohdi“ erkennen. In den Jahren der Emigration zeigte sich Thomas Mann teils verständnisvoll angesichts von Hauptmanns Haltung, teils enttäuscht: „Ich hasse diese Attrappe, die ich verherrlichen half“, notierte er am 9. 5. 1933. (Thomas Mann: Tagebücher Band 2: 1933 – 1934, S. 79)

 

Nach Hauptmanns Tod, nachdem erste Gerüchte von dessen dramatischem Requiem „Die Finsternisse“ zu ihm vorgedrungen waren und Hauptmanns Witwe Margarete mit ihm wieder in Kontakt trat, fand er versöhnlichere Worte und stellenweise gar wieder zur früheren – partiellen – Begeisterung und Bewunderung zurück. So lesen wir in der „Entstehung des Doktor Faustus“ über Hauptmanns Persönlichkeit, diese habe „etwas Attrappenhaftes, bedeutsam Nichtiges, diese 'Persönlichkeit', hatte in ihrer geistigen Gebundenheit etwas von steckengebliebener, nicht recht fertig gewordener und ausartikulierter, maskenhafter Größe, also daß man, sonderbar gebannt, stundenlang an den Lippen des gebärdenreichen Mannes im schlohweißen Haar hängen mochte, ohne daß bei der Sache irgend etwas 'herauskam'. Und doch kam unter Umständen etwas zwar vielleicht sehr Einfaches, aber durch die Persönlichkeit eigentümlich ins Relief Getriebenes und zu neuer und starker Wahrheit Erhobenes heraus, das man nie wieder vergaß.“ (Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden, 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1974, Bd. XI, S. 275).

 

In seiner großen Rede zum 90. Geburtstag des Verstorbenen würdigte Thomas Mann in Hauptmann den großen, visionären Menschengestalter und den Dichter nicht allein des Mitleids, sondern des menschlichen Leids an sich. Er betonte insbesondere das oftmals verkannte Primat des Geistigen im Werk Gerhart Hauptmanns, das er gegen eine dumpf-irrationalistische, deterministische Deutung der Weltanschauung und Geisteshaltung seines Verfassers verteidigte.

 

Die von Thomas Mann angemahnte Rückbesinnung auf „die geistgewollten, geistbewirkten vitalen Zuströme“ (Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden, 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt am Main 1974, Bd. IX, S. 805), die Hauptmanns Natur beschieden waren, sollte auch der heutige Leser beherzigen, der sich vorurteilsfrei dem Werk Gerhart Hauptmanns zuzuwenden beabsichtigt.

 

Am 5. Februar 1946 schrieb Gerhart Hauptmann an Walter A. Reichart: „Es steckt Ungehobenes in meinem Werk, das der Gegenwart und zukünftigen Zeit viel, viel helfen kann. Ich lege es in Ihre liebe Hand.“ (zitiert nach: Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie. München 2012. S. 726, Anmerkung 1)

 

Dieses Vermächtnis in Würde zu bewahren und weiterzutragen, die mythische Konfiguration im Gesellschaftsstück und die Reflexion gesellschaftlichen wie darüber hinaus rein menschlichen Leides in scheinbar zeitfernen Traumdichtungen Hauptmanns zu erkennen und die ungehobenen Schätze zu entdecken, die das Gesamtwerk Gerhart Hauptmanns in seiner Vielfältigkeit bereit hält, sei uns Heutigen immer noch, oder besser gesagt: mehr denn je Ansporn und Verpflichtung zugleich!

 

 

Lektüreempfehlungen:

 

Bücher jüngeren Datums von Peter Sprengel über Gerhart Hauptmann:

 

Peter Sprengel (Hrsg.):

Hermann und Hedwig Stehr im Briefwechsel mit Gerhart und Margarete Hauptmann

Veröffentlichungen der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft e.V. ; Band 14

Erich Schmidt Verlag, Berlin 2008

262 Seiten, 39.80 EUR

ISBN: 978-3-503-09852-1

 

Peter Sprengel:

Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich

Propyläen Verlag, Berlin 2009.

381 Seiten, 24,90 EUR.

ISBN-13: 9783549073117

 

Peter Sprengel:

Abschied von Osmundis. Zwanzig Studien zu Gerhart Hauptmann

Neisse Verlag, Dresden 2011

575 Seiten, EUR 48.00 (DE), EUR 49.40 (AT)

ISBN: 978-3-86276-011-4

EAN: 9783862760114

 

Peter Sprengel:

Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie

C. H. Beck Verlag, München 2012

848 Seiten, 38.00 EUR

ISBN-13: 978-3-406-64045-2

ISBN-10: 3-406-64045-1

EAN: 9783406640452

 

 

Dissertationen:

 

Gregor Schmeja:

Spielarten der Ambivalenz: Selbst- und Objektbilder im Kontext ödipaler Konflikte und der frühen Mutter-Kind-Beziehung in Textphantasien Gerhart Hauptmanns

Freiburger literaturpsychologische Studien, Band 8

Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005

179 Seiten , EUR 28.00

ISBN 3-8260-3187-3

 

Marc Jeremias Schweissinger:

Gerhart Hauptmann and his historical plays: aesthetic character construction and its relationship to history

Shaker Verlag, Aachen 2008

366 Seiten, 49.80 EUR

ISBN: 978-3-8322-7050-6

3-8322-7050-7

 

Bernhard Tempel:

Alkohol und Eugenik

Ein Versuch über Gerhart Hauptmanns künstlerisches Selbstverständnis

Thelem Verlag, Dresden 2010

367 Seiten, 39.90 EUR

ISBN: 978-3-942411-01-1

EAN: 9783942411011

 

Vermischtes:

 

Rüdiger Bernhardt:

"... geschehen ist der Götter Ratschluss!"

Gerhart Hauptmanns Delphi lag auf Hiddensee

Der Dichter in der Zeit von 1933 bis 1945

Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2006

178 Seiten; EUR 14.50

ISBN-10: 386634094X

ISBN-13: 978-3866340947

EAN: 9783866340947

 

Günter Gerstmann (Hrsg.):

Entrückt ins Paradies“. Beiträge zum Werk Gerhart Hauptmanns

NOTSCHRIFTEN – Verlag, Radebeul 2012

134 Seiten, EUR 11.90 (DE), EUR 12.30 (AT)

ISBN-10: 3940200816

ISBN-13: 978-3940200815

 

Arne Gustavs:

Gerhart Hauptmann auf Hiddensee

Mit Texten von Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Hans von Hülsen und anderen

Gustavs Verlag, Zepernick 2008

135 Seiten, 16.99 EUR

ISBN: 978-3-929833-08-5

 

Harriet Hauptmann und Stefan Rohlfs (Hrsg.):

"In höchster Berliner Eile…". Gerhart Hauptmann – Ivo Hauptmann. Briefwechsel

Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2012

252 Seiten, EUR 24.95 (DE), EUR 25.70 (AT), sfr 30.50 (freier Pr.)

ISBN: 978-3-942476-32-4

3-942476-32-0

EAN: 9783942476324

 

Klaus Hildebrandt und Krzysztof A. Kuczynski (Hrsg.):

"Habt herzlichen Dank für Eure Freundschaft..."

Menschen um Gerhart Hauptmann

Wissenschaftlicher Verlag der Staatlichen Fachhochschule in Wloclawek

340 Seiten, Wloclawek 2011

ISBN 978-83-60607-26-8

 

Heinz D. Tschörtner:

Proteus Hauptmann. Beiträge zu Werk und Wirkung

Thelem Verlag, Dresden 2009

240 Seiten, EUR 29.80

ISBN: 978-3-939888-47-5

EAN: 9783939888475

 

 

Anmerkung der Redaktion:

Diese Rezension erschien ursprünglich in der Märzausgabe des Jahres 2013 der „Wiener Sprachblätter“ (Jahrgang 63, Heft 1, September 2013). Für die Wiederveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet und um Literaturhinweise ergänzt.