Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April 2020 , Teil 2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Puhhh!“, ist das ein starker Roman! Ein 345 Seiten fassender Krimi auch, aber auch eine populärwissenschaftliche Erzählung und gleichzeitig eine kunstwissenschaftliche Betrachtung über die Höhlenmalerei der Urmenschen dort unten an der Küste der Calanques, wo es die Unterwasserhöhlen mit den urzeitlichen Felszeichnungen gibt.
Dieses Buch zwingt Sie geradezu, sich Ihrer eigenen Bibliothek zu bemächtigen oder im Internet nachzuforschen, in gleich vier Richtungen:
Als erstes wollten wir wissen, wo genau der legendäre Marseiller Hauptkommissar de Palma – der schon dreimal vor unseren Augen ermittelte - in seiner prähistorischen Spurensuche nach dem Tauchertod des Archäologen Rémy Fortin ermittelt. Die Calanques sind das Untersuchungsgebiet des Kommissar, der von Pauline Barton, die die universitären Ausgrabungen in der Le-Guen-Höhle leitet, im Detail über den Tod des Tauchers informiert wird, an dessen Natürlichkeit sie Zweifel hegt. Sie begleitet die Romanhandlung auf einem Nebengleis und wird über das Geschehen vom Kommissar immer wieder unterrichtet.
Die Ausgrabungsstätte gehört zur kleinen Gemeinde Quison. Dieser Ort liegt im Kanton Valenzole, zugehörig zum Arrondissement Forcal, Teil der Region Provence-Alpes-Cote d‘Azur. Diese Gegend gehört zum Gebiet des Marseiller Kommissariats, aber der Fall selbst bringt de Palma an viele Orte, bis Paris.
Dann zwingt einen die Hauptgeschichte um Thomas Autran, der seit seiner Kindheit ständig in psychiatrischen Anstalten untergebracht war, und nun wegen Massenmords an jungen Frauen seit zehn Jahren im Spezialgefängnis sitzt, uns genauer mit den unterschiedlichen Formen des Wahnsinns zu beschäftigen, wobei die Spezialität dieses Romans im Verhältnis von urzeitlichen und heutigem Schamanentum mit ihren speziellen, ja vergleichbaren Formen des Wahnsinns liegt. Unglaublich spannend. Aber auch furchteinflößend unter die Haut kriechend. Und wir haben es mit einem das Buch durchwandernden Wissen in archäologischer wie anthropologischer und physiologischer Hinsicht zu tun, wo es mit der Phrenologie (Schädelkunde) in Richtung Darwins Evolutionstheorie geht, die Cesare Lombroso zum Konzept des geborenen atavistischen Verbrechers führte, was einerseits die Kriminologie befruchtete, andererseits mit der Eugenetik gespenstisch zu den Nazis führt und heute erneut von Dummköpfen mit fatalen politischen Folgen ernst genommen wird. Das Sensationelle an diesem Buch ist, daß nicht von Theorien geschwafelt wird, sondern diese im Handlungsvollzug eine Rolle spielen und die entsprechende Fachliteratur von den Protagonisten gelesen wird, in ihren Bücherregalen steht und auf diese Weise auch als Beleg für den Leser jeweils genannt wird.
Thomas Autran, psychisch schwer gestört, an verschiedenen Formen des Wahns leidend, grundsätzlich ein Schizophrener, ist gewissermaßen hellsichtig und besonders intelligent. Es gelingt ihm aus seiner Gefängnisfestung zu fliehen, genau zu der Zeit, wo seine Zwillingsschwester Christine, die wegen Beihilfe zu seinen Morden zehn Jahre sitzen mußte, freikommt.
kommt mit Thomas Autran seine ganze Familie ins Spiel. Vor allem die erwähnte, schöne, begabte Zwillingsschwester Christine, ihm im Inzest verbunden, die, selbst studierte Archäologin mit großem wissenschaftlichem Erfolg, damit den Spuren des Vaters Pierre folgte, der als Hobbyarchäologe beteiligt war an den sensationellen Unterwasserfunden dieser Le-Guen-Höhle, die 1970 unter der Leitung des Professor Palestro stattfanden. Wichtigster Fund war die kleine Statue des Hirschkopfmenschen, den der junge Archäologe Jérémie Payet entdeckt hatte, den aber Meister Palestro, wie es so ist, als eigenen Fund ausgab, wissenschaftlich aufarbeitete und publizierte. Erst am Schluß erfahren wir, was nun Payet und Pierre Autran miteinander zu tun hatten, außer, daß sie beide bei den Erforschungen dieser Unterwasserhöhlen dabei waren.
Thomas Autrans Familiengeschichte bleibt die wichtigste Quelle für alle Morde und sonstige Schrecklichkeiten. Denn Thomas war schon als kleiner Junge durch sämtliche Psychiatrien gequält worden, immer auf der Suche nach Heilung für seinen inneren Schrecken und die inneren Stimmen. Jeder Anstaltsaufenthalt machte ihn kranker. Seine Mutter – so meinten die Zwillinge – lehnte sie ab, sie wollte unbehindert ohne Kinder leben. Doch der Vater kümmerte sich rührend um sie, um alle beide, wobei – wie immer – die Bande von der Tochter zum Vater besonders eng sind, dieser aber auch den Sohn hochhält. Doch der Vater stirbt früh, unmittelbar nach dem sensationellen Fund des Hirschkopfmenschen 1970. Die Frage, ob dies ein natürlicher Tod war und was die Ehefrau und Mutter damit zu tun hat, mäandert durch den Roman, dessen Handlung mit den Rückbezügen vierzig Jahre später, 2010 spielt, wie auch der so ungewöhnliche tödliche Autounfall der Mutter, wohl zwölf Jahre nach dem Tod des Vaters, wo die Zwillinge als Täter immer wahrscheinlicher werden....ist das nicht unglaublich, das nimmt ja antike Züge an, das riecht und schmeckt nach den griechischen Tragödien, nach der Orestie von Aeschylos, wo es um den Gatten- und Brudermord geht, den der Sohn rächen will, nach Euripides, der eine Elektra schrieb, die den Bruder Orest retten will, aber Sophokles tat es ihm nach und dessen Elektrafassung wurde die Vorlage für Hugo von Hofmannsthal, der sein eigenes Drama zum Libretto für Richard Strauss umschrieb, die Lieblingsoper des ermittelnden de Palma, die er dauernd singt oder auflegt, was wir mitlesen dürfen, damit klar ist, daß wir noch mitten im Roman sind.
Fortsetzung folgt
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Info:
Xavier-Marie Bonnot, Der erste Mensch, Unionsverlag 2020