bonnot unionsverlagSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April 2020 , Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Viertens spielt das Ganze einen Monat vor der Pensionierung von Michel de Palma, den mit diesem, seinem letzten Fall, seine eigene Kommissarsgeschichte einholt, hatte er doch damals vor zehn Jahren Thomas Autran gefaßt, der ihn seinerseits fast getötet hätte, ärztliche Kunst rettete ihm das Leben.

Dieses Leben will er nun genießen und sich mit Eva ein besseres Leben machen, die von seinem schwarzen Kommissionsgeschäft mit Tod und den Mördern nichts wissen will, was aber doch sein Leben ausmachte. Elegant gelingt es dem Autor, das zwar einfließen zu lassen, aber nicht so peinlich zum Mittelpunkt des Krimis zu machen, wie es die derzeitige Sucht von Krimis zeigt, oft das schwierige Privatleben der Kriminalbeamten zum Hauptthema zu machen. Nein, die Mordermittlung bleibt das A und O des Romans, an der das gesamte Kommissariat beteiligt ist.

Diese vier Hauptstränge – auf einen weiteren Nebenstrang, die Musik, insbesondere die Opern und ihre Aufführungen auf Platten und die jeweiligen stimmlichen Vorzüge der Interpreten, die de Palma sofort heraushört und einordnet, verzichten wir hier, dies gehört aber zum Vergnügen, diesen vielschichtigen und vielstimmigen Roman zu lesen, unbedingt dazu! - bringt Bonnot völlig stimmig in ein einziges Geschehen, die Aufklärung über den ersten Tod im Roman beim Tauchen, des oben erwähnten Fortin, als Mord oder Dekompressionsunfall, aber letzteres würde bedeuten, daß dieser heimlich eigene Tauchgänge unternommen hätte. Es bilden tatsächlich die erforschten Unterwasserhöhlen mit den Zeichnungen und Stein- und Holzkohlefunden, wo auch damals der Hirschkopfmensch gefunden wurde, und ein noch unbekannter Schlund das Zentrum des Romans, in dem alles endet und dem Kommissar – und damit uns Lesern - die letzte Aufklärung über das jahrzehntelange Mordgeschehen gibt, das aber in den Höhlen nicht seinen Anfang nahm. Der liegt weit früher und hat mit der Mutter und deren Familie zu tun, aber nicht nur mit dieser, auch weitere unglücklichen Familien spielen eine Rolle, es läuft einem kalt den Rücken herunter, wie sehr Tolstoi hier Recht hat, wenn er sagt: Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.

Wir müssen jetzt schweigen, denn jedes weitere Wort enthüllt zu viel von dem, was Sie mit zunehmender Spannung selber erlesen und sicher wie wir auch, fast andächtig registrieren, wie der Autor fundamentales Wissen in eine Geschichte strickt, die bestrickend zu lesen ist, je weiter im Text, desto mehr!

Nur zwei Rätsel bleibt. Warum die schöne Martine Combes, verheiratete Autran, die aus einer dieser unglücklichen Familien stammt und eine weitere gründet, überhaupt Pierre Autran geheiratet hat, wo sie doch vor, während und nach der Ehe durchgehend einen Geliebten hatte, der glanzvoller und reicher war – und sie gegenliebte. Das bleibt unklar, erscheint aber wichtig, weil ja aus der Konstellation dieser fünf Personen: das Ehepaar, der Geliebte, die Zwillinge, die ganze Tragödie resultiert.

Das zweite Rätsel ist ganz anderer Natur. Michel de Palma ist ja ein sehr gebildeter Mann. Innerhalb seiner Untersuchung der Psychiatrischen Anstalten, durch die Thomas hindurchgequält wurde, kommt der Kommissar auch nach Ville-Evrad, der berühmtesten und berüchtigsten Anstalt des Fin de Siècle, auch später berühmt durch zwei Insassen. Darum ist es sehr unwahrscheinlich, daß de Palma erst dort im Jahr 2010 erfährt, daß Camille Claudel hier in Ville-Evrad 1913 eingewiesen wurde. Zwar ist der berühmte Film Camille Claudel, 1915 mit Julie Binoche, der das jahrzehntelange Eingesperrtsein und Dahinvegetieren thematisiert, erst 2013 in die Kinos gekommen, aber der Vorgängerfilm Camille Claudel mit Isabelle Adjani erschien schon 1989, ganz abgesehen davon, daß dies auch ohne diesen in Frankreich sensationell erfolgreichen Film Kunstkennern bekannt war.

Aber das sind nur interessante Petitessen bei einem in verschiedenen Disziplinen auf hohem populärwissenschaftlichen Niveau durchkomponierten Roman, der unter der Hand aufzeigt, daß die Ursachen menschlichen Fehlverhaltens und Verbrechens der prähistorische Welt nicht entfernt sind von den unseren. Ein großer Roman!

PS: Und immer noch eine Frage. Nämlich, warum dieser berückende Roman, der original 2013 erschien, erst 2020 auf Deutsch erscheint?

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Info:
Xavier-Marie Bonnot, Der erste Mensch, Unionsverlag 2020