Dritter Teil des Vorabdrucks von Susan Szabos Krimi „Doppelmord an der Uni“
Susan Szabo
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Kommissar Kuschke stößt bei seinen Ermittlungen auf mögliche Tatmotive.
Frankfurt, Hotel InterContinental
Eine Viertelstunde früher als abgemacht, kam Kuschke im Hotel an. Er war neugierig auf den möglichen Nobelpreisgewinner. Würde er sich zugänglich zeigen, oder eher schwierig und abgehoben sein? Er ging zur Rezeption. Dort erfuhr er, dass Martinez bereits am Abend vor dem geplanten Symposium eingecheckt hatte.
Der Professor erschien pünktlich um achtzehn Uhr dreißig. Er sah aus wie auf dem Bild, das Kuschke gegoogelt hatte. Gewelltes graues Haar, blaues Hemd, dunkelblauer Sakko, Brille mit eckiger Metallfassung.
Kuschke ging zu ihm und stellte sich vor.
„Ich hab schon mit Ihrer Kollegin Frau Yüksel telefoniert“, sagte Professor Martinez und schlug vor, sich beim Abendessen zu unterhalten.
Kuschke hatte Hunger und freute sich auf das Essen. Sie setzten sich an einen Zweier-Tisch, und er bestellte Tafelspitz vom Kalb mit Bärlauchkartoffeln. Der Professor nahm Caesar Salad. Mit einem Spätburgunder Weißherbst prosteten sie einander zu.
„Sie waren, wie ich höre, bereits am Donnerstag da, obwohl das Symposium erst gestern Nachmittag hätte stattfinden sollen“, sagte Kuschke.
„Ja, ich kam früher, weil ich vorher noch einen alten Freund am Max-Plank-Institut besuchen wollte.“
Kuschke ließ sich den Namen und die Telefonnummer des Freundes geben.
„Sie waren nicht bereits heute Morgen im Institut von Professor Wissmann?“
„Nein, nein. Ich hab gefrühstückt, und dann bin ich am Mainufer spazieren gegangen.“ Der Professor sah zur Seite. „So was brauch ich, um auszuspannen.“
„Ja, sicher, Ausspannen. Sie sind also alleine spazieren gegangen? Das heißt, niemand hat Sie gesehen?“
„Wie meinen Sie das? Natürlich haben mich irgendwelche Leute, die ich nicht kenne, gesehen.“ Martinez musterte ihn missmutig. „Das kommt mir langsam wie ein Verhör vor. Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“
„Weiß ich. Ein weltberühmter Wissenschaftler, ein Anwärter für den Nobelpreis.“
Jetzt lächelte Martinez. „Nobelpreis? Na ja, da müsste ich irrsinnig Glück haben.“
„Oder etwas nachhelfen?“
Der Professor schien die Anspielung nicht zu verstehen. „Die lassen sich nicht bestechen!“ Oder er wollte sie nicht verstehen.
Wie schon bei Frau Krause und Frau Wissmann, fragte Kuschke nach irgendwelchen Feinden und Animositäten.
„Vermutlich hat er sich sehr wohl ein paar Feinde gemacht. Manche fanden, er sei ein Nörgler, ein Querulant.“
„Wieso?“
„Na ja, eigentlich war er ein Gentleman. Aber wenn die Dinge anders liefen, als er es sich vorgestellt hatte, wurde er laut und beschwerte sich. Er konnte sogar in Rage geraten und total ausflippen.“
„Da hätte ich gern ein konkretes Beispiel.“
Professor Wissmann sei Berater der Bundesregierung gewesen, sagte Martinez. Es sei um Katastrophenschutz und Risikoanalyse gegangen. Wissmann war Mitglied einer Arbeitsgruppe gewesen, die sich mit der Möglichkeit einer durch Viren verursachten Pandemie befasste.
„Da musste er aber Kenntnisse über Virologie gehabt haben“, unterbrach ihn der Kommissar.
„Hatte er doch. Er kapselte die verschiedensten Substanzen in seine Nanopartikel ein. Auch Viren, mit dem Ziel, einen Impfstoff zu entwickeln.“
„Durch die Nanopartikel war er also recht vielseitig.“
„Genau.“
Martinez nahm seine Brille ab, fummelte ein Tüchlein aus seiner Sakkoinnentasche und polierte damit seine Brillengläser. Er setzte die Brille wieder auf und fuhr fort: „In dem Bericht beschrieben die Wissenschaftler alle möglichen Aspekten und Auswirkungen einer Pandemie. Schließlich ging die Analyse als Drucksache an den Bundestag. Darin war unter anderem zu lesen, dass selbst bei früh eingeleiteten Schutzmaßnahmen 7,5 Millionen Menschen in Deutschland an einer neuartigen Virus-Erkrankung sterben könnten. Und das wäre auch der Fall, wenn anfangs nur zwei Menschen sich damit beispielsweise in China angesteckt hätten.“
„Das wäre schrecklich! Das kann ich nicht glauben!“
„Genau das hat die Arbeitsgruppe aber mit Statistiken gut belegt.“
Martinez seufzte, nahm die Brille wieder ab, sah aus der Ferne durch die Gläser und setzte sie wieder auf. „Es versteht sich, dass die Regierung diese Information geheim halten wollte.“
„Damit keine Panik entsteht.“
Der Professor nickte. „Viele Politiker wollten es auch nicht glauben. Jedenfalls ignorierten sie die Ergebnisse der Berechnungen. Wissmann war ein guter Wissenschaftler, aber er war kein Diplomat. Während seine Kollegen das einfach hinnahmen, drückte er seinen Ärger über diese Gleichgültigkeit vehement aus. Er verfasste einen bösen Brief und schickte ihn an verschiedene Stellen, auch an die Bundeskanzlerin. Es kam keine Reaktion. Man behandele ihn wie einen Irren, hat er mir gesagt. Natürlich beriet er nie wieder die Regierung.“
„Vermutlich hätten sie ihn auch nie wieder eingestellt.“
„Da haben Sie recht. Danach gab es auch Unstimmigkeiten mit den Kollegen, die mit ihm in der Beratergruppe zusammengearbeitet hatten.“
„Was für welche?“
„Leider weiß ich nichts Genaueres. Das müssten Sie einen von denen fragen.“
Kuschke notierte ein paar Namen, die Martinez ihm daraufhin nannte.
Der Professor sah ihn ernst an. „Wissen Sie, die meisten Menschen haben vor einer Wahrheit mehr Angst als vor einer Lüge. Wer will denn schon hören, dass es hier in unserem sauberen Land zu einer gefährlichen Pandemie kommen könnte.“
Kuschke nickte.
Es entstand eine Pause, während die beiden zu Ende aßen. Der Professor blühte auf, als sie beim Espresso über Unverfängliches sprachen. Es ging um die Besonderheiten der Schweiz und insbesondere der Stadt Genf. Er erzählte von dem einzigen chinesischen Restaurant in der Schweiz, dem jemals im Guide Michelin einen Stern verliehen wurde, und dass sich dieses nur ein paar Kilometer nördlich von Genf befand.
„Das hatten Wissmann und ich gemeinsam“, sagte Martinez. „Er interessierte sich auch für Kulinarik. Der arme Mann! Ich hoffe, dass Sie den Mörder bald finden.“
Ja, dachte Kuschke, nett von ihm, das zu sagen. Hatte die Miene des Professors jedoch nicht etwas Schauspielerhaftes, während er das sagte? Etwas übertrieben, ja gespielt Besorgtes? Und wie direkt er ihn dabei in die Augen sah!
Am kommenden Tag wollte Martinez zurück nach Genf fliegen. Kuschke hatte nichts in der Hand, um ihn daran zu hindern. Von Willi hatte er erfahren, dass tatsächlich niemand ihn in dem Institut oder in dessen Nähe gesehen hatte. Falls der Verdacht dennoch auf ihn fallen sollte, konnten sie den Staatsanwalt bitten, einen Rechtshilfeantrag zu stellen.
Kuschke rief den ersten Wissenschaftler an, den Martinez genannt hatte. Es handelte sich um den Leiter des Instituts für Virologie und Epidemiologie der Viruskrankheiten am Universitätsklinikum Tübingen.
„Ob ich zusammen mit Professor Wissmann gearbeitet habe? Ja, wir waren mal zusammen in einer Arbeitsgruppe.“
„Wie war so die Zusammenarbeit mit ihm?“, fragte Kuschke.
„Gut. Er war sehr akribisch. Aber was danach kam, war weniger erfreulich.“
„Was meinen Sie damit? Was war unerfreulich?“
„Also, wir schrieben zusammen einen langen Bericht. Es war eine Risikoanalyse für die Bundesregierung. Und die wollten unsere Ergebnisse nicht so recht glauben. Politiker sind auch nur Menschen. Auch sie glauben nur das, was sie glauben wollen.“
„Haben Sie sich über die Unbelehrbarkeit der Politiker geärgert?“
„Ja, schon. Aber ich war der Ansicht, daran ist sowieso nichts zu ändern, und ich wollte mich nicht bei der Regierung unbeliebt machen.“
„War das auch bei Professor Wissmann der Fall?“
„Nein, ganz und gar nicht. Er verfasste einen bitterbösen Brief, in dem er sich unter anderem über die Einstellung der Regierung zu den Wissenschaften beschwerte. Dann wollte er, dass ich den Brief auch unterschreibe.“
„Haben Sie das getan?“
Der Institutsleiter stöhnte. “Nein. Ich unterschreibe ungern etwas, was ich nicht selbst geschrieben habe. Außerdem war ich mit dem Inhalt nur zur Hälfte einverstandene. Der Rest war mir zu polemisch.“
„Wie ging’s dann weiter?“, fragte Kuschke.
„Danach sprach Wissmann nicht mehr mit mir, und auf Kongressen mied er mich.“
„Er war also nachtragend.“
„Ja.“
Der Virologe wartete, aber Kuschke sagte nichts Weiteres.
„Wissen Sie, es ist eine unverzeihliche, schreckliche Tat, dieser Mord, aber irgendwie kann ich fast nachvollziehen, dass jemand so wütend auf ihn werden konnte, dass er ihn umbrachte. Mit Frauen kam er bestens aus, aber mit Männern gab es bei ihm häufig Konflikte. Ich meine, mir macht so was nicht viel aus, aber jemand mit einem labilen Gleichgewicht...“
Kuschke bedankte sich und versuchte gleich, die zweite Person zu erreichen, die er sich notiert hatte. Es handelte sich um eine Professorin in Marburg. Leider war sie verreist, wie ihm die Institutssekretärin mitteilte.
Bei der dritten Person, einem Wissenschaftler am Institut für Virologie der Universität Bonn, hatte er jedoch wieder Glück. Nach seinen Eingangsfragen kam er auf Wissmanns Beschwerdebrief zu sprechen.
“Ach, den? Den fand ich gut. Wir hofften, er würde die Regierung etwas aufrütteln. Seit dreißig Jahren nehmen Infektionskrankheiten wieder zu. Sie sind weltweit die Todesursache Nummer eins vor Herz- und Kreislauferkrankungen. Ich war mit Wissmann einverstanden. Da müsste man mehr tun, sowohl in Sachen Prävention wie auch bezüglich vorbereitender Maßnahmen. Also hatte ich unterschrieben.“
„Stimmt es, dass darauf keine Antwort von der Bundesregierung kam?“
„Ja, leider. Hat mich aber nicht überrascht.“
„Warum nicht?“
„Die setzen doch andere Prioritäten. Das alles ist denen viel zum hypothetisch. Die versuchen, Probleme erst dann zu lösen, nachdem sie tatsächlich aufgetreten sind.“
„Was war Professor Wissmann für ein Typ Mensch? Hatte er Feinde?“
„Ein guter Mensch. Ich mochte ihn. Er war in allen Dingen sehr genau. Und auch sehr kritisch. Auch kreativ. Er war ein guter Wissenschaftler, der sich aber über Missstände und Schlampereien sehr aufregen konnte. Er war also nicht der abgehobene Typ, der still vor sich hinforscht, sondern er stürzte sich mitten ins Gefecht, wenn‘s sein musste. Wahrscheinlich hatte er sich dadurch Feinde gemacht.
„Wer zum Beispiel?“
„Das weiß ich nicht. Fragen Sie doch die Leute in seinem Institut.“
Kuschke seufzte. „Werde ich machen.“
Polizeipräsidium Frankfurt, Büro von Oberkommissar Frank Kuschke am 23. April
Früher hatte Kuschke das Wichtigste in einem Notizheftchen festgehalten. Inzwischen benützte er fast nur noch den Rekorder. Er drückte die Abhörtaste und vernahm: Überprüfen, wo Wissmann seinen Kaffee kaufte. Überprüfen, ob Wissmanns Kollegin Prof. Davison tatsächlich, wie von Frau Krause behauptet, sich in Houston, Texas aufhält. Herausfinden, ob Frau Krause einen Lebensgefährten hat. Der letzte Punkt war wichtig, denn wenn sie keinen hatte, so wäre es möglich, dass sie in ihren Chef verliebt gewesen war, dass sie sogar eine intime Beziehung miteinander gehabt hatten.
Kuschkes Chefin, Kriminalhauptkommissarin Birgit Langer, kam vorbei, grüßte und sah ihn mit ihren grauen Augen streng an.
„Ich brauch wohl nicht zu betonen, dies ist eines der schlimmsten Morddelikte, das wir je hatten. Nur der Fall Tristan hat ähnlich viel Aufmerksamkeit erregt. Aber im Unterschied zu Tristan werden wir den Mörder finden, nicht wahr?“
Kuschke nickte.
„Und deswegen ist die Zusammensetzung der Sonderkommission wichtig. Ich meinerseits weiß schon, wen ich drin haben möchte.“
„Ich habe mir auch schon ein paar Leute ausgesucht“, sagte Kuschke.
„Gut. Ich und meine Leute werden uns um den Fall des amerikanischen Professors kümmern, um Zitek. Sie hingegen sollten Ihre Ermittlungen auf den Mord an Wissmann fokussieren. An dem Fall arbeiten wir aber natürlich mit.
„Ich denke, dass Zitek sozusagen ein Kollateralschaden ist“, sagte Kuschke.
„Nicht unbedingt. Schließlich arbeiteten die beiden im gleichen Gebiet“, meinte Langer. „Das wäre bedeutsam, falls es bei den Morden um ihre Forschung geht.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Schick mir noch eine Mail mit den Namen deiner Leute, ich muss weiter.“
Kuschke konnte gerade noch „okay“ sagen, bevor sie verschwand. Er hatte Probleme mit seiner Chefin. Er konnte mit ihr nicht warm werden. Kurzum, es gab kein Rapport. Das lag vor allem an ihr, da war er sich sicher. Niemals hatte sie auch nur ein persönliches Wort mit ihm gewechselt, niemals gefragt, wie es ihm gehe.
„Vielleicht ist sie ein Alien, ein Android, verstehst du?“, hatte Julia gesagt.
Ihre Bemerkung hatte er nicht lustig gefunden, dafür war seine Situation zu unangenehm. Seine Kollegen im Präsidium waren nett, da gab es wenig Reibereien. Doch Kriminalhauptkommissarin Langer förderte nicht gerade ein harmonisches Zusammenarbeiten. Vielmehr setzte sie die Leute unter Druck und machte sie nervös.
Er seufzte und überlegte. Außer Willi Strackbein würde er Sahra Yüksel für die Mordkommission vorschlagen. Sie war ein Wirbelwind von einer Person, kompetent, unermüdlich und durchblickend. Zurzeit arbeitete sie im Bereich Bandendelikte. Kürzlich hatte sie jedoch durchblicken lassen, dass ihr Ressort, bei dem es um Betäubungsmittel, Glücksspiel und Diebstahl ging, auf Dauer etwas langweilig war. Daher hoffte er, dass sie gerne im Fall Wissmann ermitteln würde.
Meik Sollinger sollte auch in die Kommission. Er hatte die Spezialeinheit geleitet, die nach zehn Jahren den Mord an dem Radfahrer am Nidda-Ufer aufgeklärt hatte. Da der Getötete ein Dealer gewesen war, hatte Meik sich als verdeckter Ermittler mit hartnäckiger Ausdauer ins Drogenmilieu eingeschleust.
Er suchte Sollinger in seinem Büro auf.
“Hallo, gibt’s was Neues?“, fragte der Kollege.
„Nicht viel, die Professoren sind wohl mit Zyankali vergiftet worden.“
Meik stieß einen Pfiff aus. „Und das in einem Institut für Pharmazie. Irre!“
„Es könnte ein schwieriger Fall werden“, sagte Kuschke. „Die Langer will, dass wir eine Sonderkommission bilden. Bist du dabei?“
Meik grinste. „Ja klar, mach ich mit!“
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Pharmazeutika
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Info:
Doppelmord an der Uni
In den Abgründen des grauen Medikamentenmarkts
Ein Kriminalroman von Susan Szabo
Das Erscheinen der Buchausgabe ist für das Jahresende 2020 geplant.
© Susan Szabo. Alle Rechte vorbehalten.