Umschlag Die Wasserfalle von Slunj 640Heimito von Doderers Projekt „Roman Nr. 7“

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es bedarf keines Jahrestags, um sich mit Heimito von Doderers Werk zu beschäftigen.

Es reicht das Bedürfnis nach jener Art Literatur, die formal, sprachlich und inhaltlich Wesentliches von dem zur Sprache bringt, was ein Mensch in seinem Leben erleben und erleiden kann. Und damit kann man an jedem Tag beginnen. Die Frankfurter Literaturinitiative PRO LESEN e.V. hatte einen Einstieg am 20. Februar dieses Jahres mit Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ begonnen. Der fand den Beifall des anwesenden und nichtanwesenden Publikums. Also lag es nahe, sich im Herbst dem zweiten großen Roman zuwenden, den „Dämonen“. Letzterer gilt als das Hauptwerk des Autors. Doch bei der Vorbereitung stieß ich auf ein Interview des Deutschlandfunks mit der Doderer-Kennerin Eva Menasse aus dem Jahr 2016.

Ihr bereits 1966 verstorbener Schriftstellerkollege sei ein Kauz und ein in mancher Hinsicht unsympathischer Zeitgenosse gewesen. Aber für sie wäre er auch ein „Gott der Literatur“. Zum Einstieg empfahl sie ihren Lieblings-Doderer-Roman „Die Wasserfälle von Slunj“: „Es ist idyllisch, es ist schön, es ist bewegend und es ist wahnsinnig lustig und unterhaltsam.“
Einen solchen Ratschlag darf man nicht unberücksichtigt lassen. Deswegen stehen für den 17. September diese Wasserfälle auf dem PRO LESEN-Veranstaltungskalender. Allerdings unter der Voraussetzung, dass der Schutz vor dem Corona-Virus nicht einen anderen Termin notwendig macht.

Die „Wasserfälle“ sind der letzte Roman, den Doderer vollenden konnte. Er war als erster Teil des vierteiligen „Romans No. 7“ geplant (die Bezeichnung leitet sich ab von Beethovens „7. Symphonie“) und spielt zeitlich früher als „Die Strudlhofstiege” (1910/11 und 1923/25) und „Die Dämonen” (1927) , nämlich zwischen 1877 und 1910.

Zum Inhalt:

Das frisch vermählte englische Paar Robert und Harriet Clayton sind auf ihrer Hochzeitsreise, die sie durch mehrere Sehenswürdigkeiten der Donaumonarchie („Kakanien“) führt. End- und Höhepunkt der Fahrt sind die Wasserfälle von Slunj in Kroatien. Dort zeugen sie ihren Sohn Donald, wodurch diese Stätte eine besondere Bedeutung erfährt, welche die dramaturgische Klammer um das drei Jahrzehnte umfassende Geschehen bildet. Hauptschauplatz ist Wien, daneben Städte und Landschaften des Balkans und Englands. In Wien bereitet Robert Clayton nach der Hochzeit die Eröffnung einer Zweigniederlassung des in England ansässigen Familienunternehmens vor, deren Leitung er selbst übernimmt. Auch Donald wird ein talentierter Ingenieur, der zum Erfolg des Unternehmens erheblich beiträgt. Vater und Sohn sind sich auch äußerlich ähnlich. Von Donalds Schulkameraden werden sie sogar für Brüder gehalten. Doch dem Jüngeren mangelt es an der Vitalität und Ausstrahlung des Älteren. Das gilt insbesondere für Donalds Beziehungsunfähigkeit zu Frauen. So gelingt es ihm nicht, der vier Jahre älteren Monica, die ebenfalls Ingenieurin ist, seine Liebe zu zeigen. Deren Signale, ihr ins Schlafzimmer zu folgen, vermag er nicht zu entschlüsseln. Die Romanze endet, noch ehe sie richtig begonnen hat.

Monica indessen fühlt sich immer mehr zu Robert hingezogen. Die Anzeige über die bevorstehende Heirat erreicht Donald während einer Geschäftsreise durch die südlichen Landesteile. Auf dem Heimweg nach Wien werden die Wasserfälle von Slunj besucht. Dort schließt sich der Kreis durch ein verhängnisvolles Geschehen.

Der unterhaltsame und über viele Strecken spannende Roman weist weniger Personen auf als die „Strudlhofstiege“ und die „Dämonen“, obwohl zahlreiche Nebenepisoden, die sämtlich miteinander verbunden sind, zu einem sehr detailreichen und farbigen Zeitgemälde beitragen. Der Leser behält jedoch den Überblick, obwohl sein Spürsinn immer wieder gefordert wird. Auch unvermittelte Zeit- und Ortssprünge sind die Ausnahme. Hingegen ist die in ihren unterschiedlichen Facetten dargestellte österreichische Gesellschaft für den Autor Anlass, sie mit Witz und Bissigkeit zu kritisieren. Hier ist Doderer in seinem Element. Und er kommt dabei schneller zum Punkt als in den bereits erwähnten Romanen.

Den geplanten vierbändigen Zyklus konnte er jedoch nicht vollenden. Bei seinem Tod am 23. Dezember 1966 lag erst der unvollendete zweite Band („der zweite Satz“) vor, der 1967 als Fragment unter dem Titel „Der Grenzwald“ erschien.

Foto:
Umschlag der Jubiläumsausgabe aus dem Jahr 2016 mit einem von Eva Menasse.
© C. H. Beck Verlag

Informationen:
Termine und weiteres Material zur PRO LESEN – Veranstaltung findet man in der digitalen Literaturzeitschrift https://www.bruecke-unter-dem-main.de
Zum Materialangebot der Heimito von Doderer-Gesellschaft führt ein Klick auf
www.doderer-gesellschaft.org